Type and press Enter.

Unser Kulturtipp im Salento: Barfußtanzen an Italiens Stiefelabsatz

Kulturtipp Apulien Salento - Pizzica

Diesen Beitrag als Podcast hören

Kulturtipp Apulien: Entdecken Sie die Pizzica, den traditionellen Volkstanz

Header-Foto: © Caspar Diederik auf Flickr

Sobald es in Apulien, am Absatz des italienischen Stiefels, Frühling wird, treten die ersten Fälle von Tanzwut auf. Frauen mit langen Röcken und flatternden Tüchern lassen ihre nackten Füße zu den schnellen Schlägen der Tamburine wirbeln; oftmals begleitet von Gesang und anderen traditionellen Instrumenten wie Violine, Akkordeon, Gitarre, Mandoline und Flöte.

Wenn die Tarantel sticht und das Herz höher schlägt

Zu den treibenden Musikstücken im 12/8- oder 6/8-Takt werden im Süden von Italien Tage und Nächte bis zur Erschöpfung durchgetanzt. Manche Tanzenden gebärden sich dabei so wild, als seien sie sprichwörtlich von der Tarantel gestochen. Und tatsächlich wird der im Salento verbreitete Volkstanz Pizzica, der zu den Tarantella-Tänzen zählt, auf ein Ende des 14. Jahrhunderts entstandenes Heilungsritual zurückgeführt, das den Biss der Tarantel mithilfe einer herbeigetanzten Trance kurieren sollte.

Längst weiß man, dass diese Spinnenart nur selten beißt und ihr Gift für den Menschen unbedenklich ist. Der Volksglaube an die Austreibung der Spinnenbesessenheit durch ekstatisches Tanzen hat sich jedoch bis weit ins 20. Jahrhundert gehalten. Und auch heute noch sind einige Musiker fest von der Heilkraft ihrer „magischen“ Instrumente überzeugt. Gewissermaßen zu Recht, denn die positive Wirkung von Musik auf Körper und Geist wurde inzwischen neurowissenschaftlich nachgewiesen.

Pizzica-Taranta – der rituelle Heiltanz

Bei der Pizzica-Taranta wird die Spinne erst nachgeahmt und dann durch stampfende Schritte symbolisch zertreten, um sich von ihrem Einfluss zu befreien. Verschiedene psychische Störungen wurden früher mit dem Biss andersartiger Taranteln erklärt. Die Aufgabe der Musiker war es, den Charakter der jeweiligen Spinne zu erkennen und den dazu passenden Takt zu finden. Schlug das Tamburin im Einklang mit dem Herzrhythmus des Opfers, so glaubte man, verwandelte sich dessen dissoziativer Zustand in heilsame Ekstase.

Mit einem weißen Leintuch auf dem Boden wurde ein ritueller Platz im Kreis der Musiker und Zuschauer geschaffen. Letztere begleiteten den Prozess, indem sie mithilfe farbiger Tücher das Wesen der Spinne zu bestimmen suchten. Das magische Tanzritual konnte mehrere Tage andauern und endete meist mit dem körperlichen Zusammenbruch der Tanzenden.

Hier finden Sie eine Bildergalerie mit historischen Fotos

Tarantati nannte man die Gebissenen, die bis zur völligen Erschöpfung Tanzenden. Das Phänomen des Tarantismus zeigte sich hauptsächlich bei Frauen. Es wird vermutet, dass diese bewusst oder unbewusst gegen die patriarchale Unterdrückung der damaligen Zeit aufbegehrten und die Pizzica als Anlass nahmen, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Deshalb war es wohl durchaus im Interesse der „Opfer“, dass das Ritual jährlich zur gleichen Zeit wiederholt werden musste.

Ab dem 17. Jahrhundert wurden aus dem ganzen Salento Wallfahrten nach Galatina bei Lecce unternommen. Das Trinken heiligen Weihwassers aus dem Brunnen in der Chiesa dei Santi Pietro e Paolo sollte das Spinnengift aus dem Körper der Tarantati vertreiben. Der Vorplatz der Kirche wurde zur Bühne für die krampfartigen Zuckungen der Besessenen.

La Notte della Taranta – die Nacht der Tarantel in Melpignano

Das befreiende Tranceerlebnis des Pizzica-Tanzes suchen heutzutage Hunderttausende beim Festival La Notte della Taranta. Vor dem großen Abschlusskonzert in Melpignano im August tourt die Veranstaltung durch 15 Städte im Salento. Die Straßen und Plätze sind voller Menschen, Tanzgruppen und Straßenhändler, die ausgelassen miteinander feiern.

Hier sehen Sie ein Video der Pizzica auf der Notte della Taranta 2020
Hier eine Bildergalerie auf Flickr

In den 90er Jahren fand die Pizzica Eingang in die apulische Popkultur. Der zuvor als Krankheit und dann als Aberglaube beurteilte Brauch ist zur kommerziellen Unterhaltung und Touristenattraktion geworden. Aber auch zur Identifikationsfläche der jungen Generation im Salento, die das kulturelle Erbe weiterleben lässt. Bands wie Alla Bua oder Officina Zoè zählen zu den ersten Musikgruppen, die salentinische Volksmusik populär gemacht haben.

Sehen Sie hier ein Video dazu: La rusciu te lu mare von Alla Bua

Im Neo-Tarantismus spiegelt sich das zutiefst menschliche Bedürfnis nach Gemeinschaft und Katharsis, nach einer freudigen Flucht aus dem Alltag, vergleichbar mit der Rave-Bewegung der elektronischen Musikszene. Und tatsächlich: In der modernen Interpretation der salentinischen Volksmusik verschmelzen diese Genres sogar miteinander. In die tänzerischen Ausdrucksformen mischen sich ebenfalls neue Stilelemente, etwa vom Flamenco oder aus der Pantomime.

Das Tarantella-Tanzen folgt keinen starren Regeln und erfordert keinen Tanzschulbesuch. Die Schritte und Bewegungen werden leicht durch Zuschauen gelernt – und dann braucht es nur noch etwas Mut zum Selbstausdruck. Scheuen Sie sich nicht, bei einer Pizzica-Pizzica einfach mitzutanzen! Dieser Volkstanz ist kommunikativ und feiert das Leben!

Pizzica-Pizzica – der gesellige Paartanz

Diese gesellige Form der Tarantella wird bei festlichen Anlässen zur Unterhaltung getanzt. Ein Paar nach dem anderen zeigt seine Künste inmitten eines Kreises, der von Tänzern, Musikern und Zuschauern gebildet wird. Die Tanzenden umkreisen sich leichtfüßig lockend in einem Balztanz ohne Berührung. Der Augenkontakt wird dabei stets gehalten, Umarmungen dürfen jedoch nur angedeutet werden. Durch Gesten mit einem Kopftuch lädt die Frau ihren Tanzpartner zum Näherkommen ein oder hält ihn spielerisch auf Distanz.

Üblicherweise tanzen Mann und Frau miteinander. Der Tanz eines gleichgeschlechtlichen Paares ist aber auch nicht ungewöhnlich. Immer öfter sieht man mehrere Paare zugleich in der Ronda tanzen, obwohl sich traditionellerweise abgewechselt wird.

Besonders schön sind die spontan entstandenen Kreistänze, wenn gender- und generationenübergreifend voller Leidenschaft getanzt, gesungen und musiziert wird.

Ein Video dazu können Sie hier anschauen: Improvisiertes Pizzica-Konzert in Matino

Pizzica-Scherma – der traditionelle Schwerttanz

Tanzen zwei Männer miteinander, geschieht dies meist in der Form der Pizzica Scherma. Mit fließenden Armbewegungen ahmen die beiden ein Messerduell nach, wobei sie ihre ausgestreckten Finger als Waffe einsetzen. Wie bei der Pizzica generell üblich, wird auch im Schwerttanz körperliche Distanz gewahrt. Gelingt es einem Tänzer, den anderen mit einem schnellen Vorstoß zu berühren, muss dieser als Verlierer den Kreis verlassen – worauf sich ein neuer Gegner dem Gewinner stellt.

Spüren Sie im Ihrem Apulien-Urlaub dem faszinierenden Mythos der Tarantati nach! Sie müssen nicht von der Tarantel gestochen sein, um sich an der salentinischen Musik und den lebensbejahenden Tarantella-Tänzen zu erfreuen. Ob als Mittänzer oder Zuschauer, bei einem großen Festival oder kleinen Konzert – die Pizzica ist in jedem Fall ein Erlebnis.

Mareike Dietrich

Textgestalterin – Autorin

Als Innenarchitektin und Texterin gestaltet Mareike Ideen, Räume und Sprache. Für Glücksmomente Charmingplaces berichtet sie über alles, was ihr am Herzen liegt und sie selbst glücklich macht.

Mehr über Mareike erfahren

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert