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Paolo Giordano: Sinnsuche im Salento – „Den Himmel stürmen“

Buchtipp Paolo Giordano Den Himmel stürmen

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Im Roman “Den Himmel stürmen” von Paolo Giordano wird das Salento zum verlorenen Paradies für junge Idealisten

Den Himmel stürmen“ erzählt gefühlvoll und psychologisch tiefgründig von der Sinnsuche des Erwachsenwerdens, vom jugendlichen Streben nach Autonomie und Freiheit. Mit seiner gewohnt präzisen Beobachtungsgabe schreibt Paolo Giordano über zwischenmenschliche Beziehungen.

Er lässt uns unmittelbar teilhaben an den Gefühlen der Protagonisten; an ihren Verwirrungen und Widersprüchen, in die sie sich bei der radikalen Umsetzung ihrer Visionen verstricken.

Wie radikal ist normal?

Schon in der Eingangsszene, in die der Leser so unvermittelt hineingeworfen wird wie die aus dem Schlaf gerissene Teresa, kommt die Radikalität und Wechselhaftigkeit einiger Charaktere zum Vorschein. Wie jeden Sommer verbringt Teresa die Ferien mit ihrem Vater im Haus der Großmutter in Speziale. Eines Nachts beobachtet die Vierzehnjährige die etwa gleichaltrigen Nachbarsjungen beim heimlichen Nacktbaden im Gartenpool. Sie sieht mit an, wie ihr aufgebrachter Vater – der in Turin sonst so akkurate Ingenieur – die Eindringlinge vehement vertreibt, wobei er einen der drei mit einem Steinwurf verletzt. Dieser Tabubruch wird verschwiegen, wie auch weitere bedeutsame Vorfälle in den folgenden Jahren, von denen Teresa erst als erwachsene Frau erfährt.

Auf mehr als 500 Seiten entfaltet sich nun – erst romantisch dann zunehmend tragisch – die Liebesgeschichte von Teresa und Bern, dem charakterstarken Anführer des Dreigespanns vom Nachbarhof. Unter der Obhut der religiösen (Pflege-)Eltern führen die Jungen dort ein einfaches, aber naturverbundenes Landleben, das den Gegenentwurf zu Teresas wohlsituierten Verhältnissen in Turin darstellt. Zwei verschiedene Welten prallen aufeinander, der Norden und Süden in Italien, Moderne und Tradition. Für Teresa ist der Nachbarhof das Paradies. Zurück im heimatlichen Piemont, in Turin, sehnt sie sich immer mehr nach dieser Idylle.

Gegensätze solcher Art, konträre Positionen und radikale Handlungen ziehen sich wie ein Leitmotiv durch die Erzählung von Paolo Giordano. Einerseits behandelt er Themen, die das Erwachsenwerden schon immer mit sich gebracht hat: das Abgrenzen von der Elterngeneration, das Streben nach Autonomie, die Befreiung von Konventionen. Andererseits reflektiert er auch den Zeitgeist der Gegenwart, in der wir am Ende des Buches ankommen. Der Autor sagt dazu im Interview: „Mich interessiert es sehr, die Radikalität zu erforschen. Wir leben ja in einer Zeit, die einen förmlich zur Radikalität treibt.“ Wir fallen also mit den heranwachsenden Romanfiguren von einem Extrem ins andere, schwanken mit ihnen zwischen Glaube und Nihilismus, Abhängigkeit und Freiheit, Nähe und Distanz, Liebe und Hass.

Teresa nimmt uns als Ich-Erzählerin zunächst mit von Sommer zu Sommer, im ersten Teil des Buches noch in chronologischer Reihenfolge. Dann bekommt die Zeit- und Erzählstruktur des vierteiligen Romans Brüche, genau wie die Beziehungen zwischen den einst so eng verbundenen Kindheitskameraden. Rückblicke werden eingeschoben und vermischen sich mit Augenblicken aus der Gegenwart. Das Erlebte wird von verschiedenen Erzählern nach und nach wie ein Puzzle zusammengefügt, sodass sich erst am Ende des Buches ein vollständiges Bild ergibt.

Auch wenn Teresa sich nichts sehnlicher wünscht als dass alles so bleiben möge wie im Sommer zuvor: Als sie mit achtzehn nach Speziale kommt, ist Bern spurlos verschwunden und niemand verrät ihr weshalb. Zutiefst enttäuscht verbannt Teresa Apulien aus ihrem Leben. Erst zur Bestattung ihrer Großmutter, die den zweiten Teil der Handlung einleitet, fährt die nun Dreiundzwanzigjährige wieder in das 1000 Kilometer von Turin entfernte Dorf. Auf dem Friedhof, abseits der Trauergesellschaft, entdeckt sie überraschend Bern und folgt ihm auf den Nachbarhof. Teresa findet ihr verlorenes Paradies von den Besitzern verlassen vor. Stattdessen hält eine Gruppe von Umweltaktivisten das Anwesen besetzt; darunter Bern und Tommaso, der zweite des früheren Kindheitstrios.

Bücher verändern das Leben

Bern hat sich durch die Lektüre von Max Stirners „Der Einzige und sein Eigentum“ vom Gläubigen zum extremen Nihilisten gewandelt. Fortan lässt er nichts mehr außer den eigenen Gefühlen als Maßstab seines Handelns gelten, die Natur wird zu seiner neuen Religion. Möglicherweise inspirierte folgende Passage aus Stirners umstrittener Schrift den Titel von Giordanos Roman: „Das Jenseits außer Uns ist allerdings weggefegt, und das große Unternehmen der Aufklärer vollbracht; allein das Jenseits in Uns ist ein neuer Himmel geworden und ruft Uns zu erneuten Himmelsstürmen auf.“ Bern äußert sich kurzzeitig zufrieden: „Hier befiehlt uns niemand mehr was. Wir haben den Himmel gestürmt.“

Er und seine Mitstreiter sind in ihrer Sehnsucht nach einer alternativen Weltordnung zu allem bereit. Rebellisch überschreiten sie immer wieder die Grenzen von Recht, Konvention und Moral.

Der Autor flicht noch weitere literarische Verweise in die Handlung ein: So lässt er bereits den kindlichen Bern Calvino lesen und ihn als erwachsenen Baumbesetzer dem „Baron auf den Bäumen“ nacheifern. Dazu Giordano: „Mich hat interessiert zu erzählen, wie relevant Bücher sein können, um das Leben zu verändern, um das Leben eines Menschen zu beeinflussen. Denn wenn ich an mein eigenes Leben zurückdenke, sind die größten Veränderungen, die größten Entwicklungen, die ich durchgemacht habe, oft durch Bücher entstanden.“

Veränderungen sind das, was die – neben Berns starker Persönlichkeit eher blass bleibende – Hauptfigur Teresa am wenigsten wünscht. Ihr Handeln scheint einzig von der bisweilen blinden Liebe zu ihm motiviert; sie tut alles, um in seiner Nähe zu sein. Auch die anderen weiblichen Charaktere übernehmen nie die Führung. Sie halten sich meist im Hintergrund, wie Teresas Mutter in Turin, oder werden höchstens in der Rolle der erotischen Verführerin initiativ. Was wollen eigentlich die Frauen vom Leben? Diese Frage bleibt unbeantwortet, was bei mir als Leserin ein Gefühl von geteilter Ohnmacht hinterließ.

Auch wenn die Erzählung unerwartet in Island endet, wohin Bern nach einem Mord flieht und wo Teresa ihn abermals aufspürt, werden in den ersten drei Teilen verschiedene Schauplätze in der Provinz Brindisi beschrieben. Wir reisen mit den Romanfiguren aus dem mit Olivenbäumen bestandenen Hinterland an die Küste, entdecken die Strände von Ostuni und Santa Sabina mit ihren historischen Wachtürmen und stürzen uns mit ihnen ins Nachtleben auf der Piazza della Libertà.

Fazit

„Den Himmel stürmen“ von Paolo Giordano ist ein hitziges und sehnsüchtiges Buch, das die gleißende Sonne und abwechslungsreiche Landschaft Apuliens mit einfängt. Trotz mancher Längen eine empfehlenswerte Lektüre für Italien-Reisende und alle, die es noch werden wollen.

Über den Autor

Paolo Giordano wurde 1982 in Turin geboren, wo er Physik studierte und mit einer Promotion in Theoretischer Physik abschloss. Danach arbeitete er als Journalist für die Tagespresse. 2008 veröffentlichte er seinen ersten Roman „Die Einsamkeit der Primzahlen“, einen internationalen Bestseller, der in über vierzig Sprachen übersetzt und verfilmt wurde. Nach „Der Menschliche Körper“ (2013), „Schwarz und Silber“ (2015) und dem hier besprochenen Werk erschien 2020 zuletzt „In Zeiten der Ansteckung“ als erstes Buch eines Schriftstellers über die Coronakrise.

Giordano erhielt mehrere Auszeichnungen, darunter den angesehensten italienischen Literaturpreis ‚Premio Strega‘. Paolo Giordano lebt in Rom und hat wohl selbst oft Ferien in Apulien gemacht.

Hier gibt’s das Buch

Erschienen 2018 im Rowohlt Verlag
Übersetzt aus dem Italienischen von Barbara Kleiner
528 Seiten
ISBN: 978-3-498-02533-5 (Gebundene Ausgabe)
ISBN: 978-3-499-27083-3 (Taschenbuch)
ISBN: 978-3-644-04951-2 (E-Book)

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Buchtipp Den Himmel stürmen

Mareike Dietrich

Textgestalterin – Autorin

Als Innenarchitektin und Texterin gestaltet Mareike Ideen, Räume und Sprache. Für Glücksmomente Charmingplaces berichtet sie über alles, was ihr am Herzen liegt und sie selbst glücklich macht.

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