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Gefühlt habe ich meine gesamte Kindheit im Wald verbracht. Allein mein Schulweg bescherte mir fünfmal pro Woche 40-minütige Waldspaziergänge. Zugegeben, sie waren wenig achtsam und schon gar nicht entschleunigt. Auf dem Hinweg musste ich häufig rennen, um rechtzeitig zum Unterricht zu kommen. Auf dem Rückweg lief ich zumindest an den Stellen schneller, die mir unheimlich waren.
Nach den Hausaufgaben zog es mich sofort wieder in den Wald. Gleich hinter unserem Grundstück fing sie an, die große Freiheit. Mit den Nachbarskindern kletterte ich auf Bäume, baute darauf Häuser oder hängte Seile und Schaukeln an dicke Äste. Meist waren wir in Bewegung, sprangen ausgelassen über Steine, Wurzeln und Bäche. Doch es gab auch Momente des Innehaltens: das leise Beobachten von Tieren, das Sammeln schöner Steine und herbstlich bunter Blätter.
Wenn man so will, habe ich damals schon im Wald gebadet. Wortwörtlich. Ich erinnere mich, wie wir uns der Länge nach in Blätterhaufen geworfen haben oder in frisch gefallenen Schnee. Als Kind habe ich mich im Wald zuhause gefühlt. So, als gehörte ich dorthin.
Im Erwachsenenalter änderte sich mein Umgang mit dem Wald. Ich ging nicht in den Wald, um im Wald zu sein, sondern um etwas darin zu tun. Die Natur wurde zur Kulisse für sportliche Aktivitäten. Sicherlich freute ich mich im Vorbeilaufen oder -radeln über Blumen am Wegesrand oder bemerkte, wie schön das Sonnenlicht durch die Blätter fiel. Aber schenkte ich der Natur wirklich meine ungeteilte Aufmerksamkeit? Wohl kaum.
Heute sind wir selten nur auf eine Sache fokussiert. Musikhören beim Joggen, Telefonieren beim Radfahren, Fotografieren beim Wandern – viel zu oft ist eine technische Schnittstelle zwischen uns und der Welt. Je mehr Stressoren gleichzeitig auf uns einströmen, desto stärker breitet sich ein Gefühl ohnmächtiger Leere in uns aus. Wir sind erfüllt von einer unbestimmten Sehnsucht nach tiefer Verbundenheit. So fühlt sich Heimweh an.
Unmittelbares Erleben
Hier setzt das Konzept des Waldbadens an. Es ist ein Achtsamkeitstraining, bei dem es darum geht, mit allen Sinnen in die Stille des Waldes einzutauchen und sich ganz auf die Naturwahrnehmung einzulassen. Im Wald können wir uns mit unseren Wurzeln verbinden, zurück zum Ursprung finden.
Auch wenn es mittlerweile ein großes Angebot angeleiteter Kurse gibt – Shirin-Yoku lässt sich leicht selbständig üben. Schon ein zwanzigminütiger Spaziergang im Wald kann heilende Wirkung entfalten. Vorausgesetzt, das Handy bleibt aus und die Aufmerksamkeit ist im Hier und Jetzt. Was kann ich sehen, hören, riechen? Wie fühlt sich der Boden unter meinen Füßen an? Wie die Baumrinde unter meinen Händen? Wo kann ich Leben wahrnehmen?
Am wichtigsten ist dabei, sich Zeit zu nehmen, die Langsamkeit zu entdecken. Auch einmal ziellos durch den Wald zu streifen, um dann zufällig auf einen Ort zu stoßen, der zum ungestörten Verweilen einlädt. Den Moment bestimmen lassen, was der nächste Augenblick bringt. Es ist das achtsame Gehen in Stille, das Shinrin Yoku vom gewohnten Waldspaziergang unterscheidet. Aber was macht Waldbaden so heilsam?
Tief einatmen
Die Waldluft enthält nicht nur viel Sauerstoff und Wasser, sondern auch Duftstoffe aus ätherischen Ölen: die sogenannten Terpene. Diese duftenden Botenstoffe werden von Bäumen produziert, um ihre Artgenossen vor Schädlingen und Krankheiten zu warnen. Als Schutzmaßnahme aktivieren diese daraufhin ihr Immunsystem.
In medizinischen Studien wurde beobachtet, dass der menschliche Körper ähnlich auf die in der Waldluft enthaltenen Pflanzensignale reagiert: Er produziert mehr Killerzellen, die für die Bekämpfung von Krankheitserregern zuständig sind. Außerdem sinken die Pulsfrequenz, der Blutdruck und Cortisolspiegel, während der Ruhe-Nerv Parasympathikus aktiviert wird. Die Probanden einer Studie fühlten sich nach einem Tag im Wald körperlich wohler und emotional ausgeglichener als die Kontrollgruppe in der Stadt.
In Japan wird Shinrin Yoku seit 1982 vom staatlichen Gesundheitswesen gefördert. Seit mehr als 20 Jahren untersuchen japanische Wissenschaftler die physiologischen Auswirkungen des Waldbadens. Dazu wurde 2012 eigens ein medizinischer Forschungszweig gegründet: die Forest Medicine.
In Deutschland nimmt das wissenschaftliche Interesse am Waldbaden ebenfalls zu. Im Fachbereich Medizinische Klimatologie, Kurortmedizin und Prävention der Ludwigs-Maximilians-Universität München wird die Waldtherapie empirisch erforscht. Waldbaden entfalte insbesondere bei Schlafstörungen, depressiven Gedanken, psychischen Belastungen oder der Aufmerksamkeitsstörung ADHS wohltuende Wirkung. Es wirke jedoch hauptsächlich präventiv und sei folglich als eine Maßnahme allgemeiner Gesundheitsvorsorge zu sehen, so die Mediziner. Auch wenn das Waldbaden von den deutschen Krankenkassen bislang nicht als Therapieform anerkannt wird, steigen Angebot und Nachfrage rund um das Thema ‚Wellness im Wald’ stetig an.
Urkraft im Urwald
Das Forsthaus Gödens liegt eingebettet in den weitläufigen Karl-Georgs-Forst, der von seinem Namensgeber Graf von Wedel zwischen 1871 und 1873 aufgeforstet wurde. Der einstige Fichten- und Kiefernwald hat sich in den letzten 150 Jahren zu einem naturnahen Mischwald entwickelt. Wiesede war schon immer ein waldreiches Dorf: In historischen Karten ist der ‚Wysder Holt‘ stets eingezeichnet. Der natürlich gewachsene Eichenmischwald diente den Einwohnern als Hudewald (Waldweide) für ihr Vieh und als Lieferant für Brenn- und Bauholz. Im Forsthaus Gödens kann das Erlebnis Waldbaden direkt an der Türschwelle beginnen.
Etwa 20 Minuten Autofahrt vom Forsthaus entfernt, bei Bockhorn, liegt der Neuenburger Urwald. Sein Baumbestand besteht heute weitgehend aus standorttypischen Buchen und Eichen. Der älteste Baum ist rund 800 Jahre alt, manche der mächtigen Eichen haben einen Stammumfang von bis zu sechs Meter. Seit der ehemalige Hudewald vor mehr als 80 Jahren zum Naturschutzgebiet erklärt wurde, können sich dort Flora und Fauna nahezu ohne Einfluss des Menschen entwickeln. Das Wellness-Bad in diesem Wald ist ein besonderer Luxus, denn in Deutschland gibt es gar keine echten, großflächigen Urwälder mehr. Der Neuenburger Urwald ist mit einer Fläche von 24 Hektar eines der letzten urwaldähnlichen Relikte minimaler Größe. 26 der 125 in Deutschland heimischen Baumarten sind mittlerweile vom Aussterben bedroht.
Folgen wir also dem Beispiel der alten Germanen und ehren wieder die Bäume! Auch wenn wir sie nicht mehr als Sitz von Göttern und Geistern betrachten, sorgen sie doch als Sauerstofflieferant und Kohlendioxidsenker für unser irdisches Wohlfühlklima. Und einen natürlichen Immunbooster gibt es gratis noch dazu.
Extratipp
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Mareike Dietrich
Textgestalterin – Autorin
Als Innenarchitektin und Texterin gestaltet Mareike Ideen, Räume und Sprache. Für Glücksmomente Charmingplaces berichtet sie über alles, was ihr am Herzen liegt und sie selbst glücklich macht.
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