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Im österreichischen Kaiserreich war der Triestiner Freihafen das Tor zur Welt. Handel und Tourismus florierten; ebenso das kulturelle Leben. In der kosmopolitischen Grenzstadt zwischen Ost und West vermengten sich romanische, germanische und slawische Sprachgruppen.
Aus diesem Völkergemisch entfaltete sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine literarische Kreativität, die Schriftsteller, Dichter und Intellektuelle aus ganz Europa anlocken sollte. Auch James Joyce und Rainer Maria Rilke fanden damals den Weg nach Triest.
Von Büchern, Böen und Baristas
Susanne Schaber, Autorin aus Österreich, widmet in ihrem Buch Lesereise Triest den beiden berühmten Literaten jeweils einen ihrer gründlich recherchierten und angenehm flüssig erzählen Exkurse.
Der buchreisende Lesende erfährt in „Caro Signor Schmitz! Dear Mister Joyce!“ von der unglücklichen Ankunft des irischen Schriftstellers in Triest und seinem wegweisenden Zusammentreffen mit dem Fabrikanten Ettore Schmitz. Letzterer versuchte sich unter dem Pseudonym Italo Svevo selbst als Schriftsteller, seine bisherigen Veröffentlichungen wurden aber vom Publikum verschmäht.
Einfühlsam beschreibt Susanne Schaber in ihrer Lesereise Triest, wie sich die anfangs verkannten Genies gegenseitig inspirierten und unterstützen – was letztendlich beiden zu Erfolg verhalf.
Heute ist James Joyce in der Stadt überall präsent. In Bronze gegossen flaniert er über die Brücke des Canal Grande in Richtung Piazza Ponterosso. Ihm und dem ebenfalls als Bronzestatue verewigten Svevo sind literarische Themenwege gewidmet, die zu Schauplätzen ihrer Vita und Werke führen. Sie streifen auch das gemeinsame Museum in der Via Madonna del Mare.
Denn wie könnte die Geistesverwandtschaft beider besser gewürdigt werden, als mit einem Joyce Museum und einem Svevo Museum unter einem Dach?
Foto rechts: Kaethe17, Italo-svevo-statue-triest-2020, CC BY-SA 4.0
Im Kapitel „Aus der Engel Ordnungen“ dürfen wir dank Susanne Schabers anschaulicher Schilderung die Schöpfung eines der bedeutendsten lyrischen Werke der Literaturgeschichte miterleben.
Rilkes Duineser Elegien wurden auf Schloss Duino verfasst, etwas nördlich von Triest. Den Mythos ihrer Entstehung hat der Dichter selbst geschaffen: Er berichtet, wie er nach monatelanger Schreibblockade im Brausen des Meereswindes eine Stimme vernimmt, die ihm die Verse ins Ohr geraunt habe. Schon am Abend nach dieser Naturoffenbarung sei die erste Elegie vollendet gewesen.
Heutzutage können wir auf dem Rilkeweg der Stimme der Bora lauschen. Von Sistiana wandert man rund 30 Minuten entlang der spektakulären Steilküste zum Schloss, das wie zu Lebzeiten des Dichters in Besitz der Familie von Thurn und Taxis ist.
Was die Bora nicht alles vermag! Dieser böige, oft schneidend kalte Fallwind ist der Atem von Triest.
Er entsteht durch einen großen Luftdruck- und Temperaturunterschied: Kalte Luftmassen stürzen von den Bergen herab auf das warme Meer. Besonders im Winter können Windstöße mit Geschwindigkeiten bis zu 250 Stundenkilometern auftreten.
Die Bora wirbelt mit einem Heulen, Pfeifen und Brausen, einem wilden Brüllen, Dröhnen und Donnern durch die Triestiner Straßen; sie lässt die Stadt in ihren Grundfesten erzittern.
Susanne Schaber schreibt in der ersten Episode ihrer Lesereise Triest: „Ohne Bora kein Triest, heißt es, sie sei die Musik der Stadt, ihre Seele: gefürchtet, geliebt und gehasst. Die Melodie gegen Langeweile und Gleichklang, der Frischekick, wenn Melancholie und Schwermut über den Häusern hängen.“
Die Autorin erzählt die anrührende Liebesgeschichte, die dem Wind bzw. der Göttertochter Bora in der griechischen Mythologie angedichtet wurde.
Auch die emotionalen Wirren, die das unvermittelt auftretende Wettergeschehen bei uns Sterblichen auslöst, bleiben nicht unerwähnt: „Eine innere Unrast beschleicht die Menschen, eine seltsame Form der Extravaganz und Überspanntheit im Alltag. Unfälle häufen sich, Reibereien, Handgreiflichkeiten und Selbstmorde. Ehe es schließlich losgeht mit dem Wind.“
Wetterfeste Iren wie James Joyce schwärmten hingegen von der willkommenen Abkühlung. Er schrieb in einem Brief an seinen Bruder: „Ich hasse diese verdammte, alberne Sonne, die aus Männern Butter macht. Ich ließ mich, fern von irgendjemandem, auf einer Bank nieder, umgeben von Bäumen. Die Bora raunte durch die Wipfel, und ich atmete den Duft der Erde.“
Wenn es uns auf dem Audace-Pier oder den anderen Bora-Hotspots in Triest zu ungemütlich wird, können wir ins Magazzino dei Venti flüchten. Das kleine Museum ist ein liebevoll zusammengetragenes Kuriositätenkabinett, wo das Unsichtbare sichtbar gemacht wird. Der private Betreiber präsentiert unter anderem eine Sammlung von Winden aus aller Welt, die ihm in Flaschen und anderen Behältnissen zugeschickt wurden.
Als weitere Zufluchtsmöglichkeit bieten sich die traditionellen Triestiner Cafés an, wie das Tommaseo oder das Caffè degli Specchi. Sie erstrahlen nach wie vor im Glanz der Habsburgerzeit: Marmortische, Thonet-Stühle, viel dunkles Holz, Stuck und poliertes Messing. Um das Jahr 1900 war Triest einer der größten Kaffeehandelsplätze überhaupt.
Viele weitere Informationen über Sehenswertes in der “Stadt der Winde” erhalten Sie in unseren Geheimtipps in Triest, der Hauptstadt der Region Friaul-Julisch Venetien.
Susanne Schaber widmet in der Lesereise Triest ihre Aufmerksamkeit dem Antico Caffè San Marco und nimmt uns mit auf eine Reise in die Vergangenheit. Seit es 1914 eröffnet wurde, gehen dort Intellektuelle, Künstler und Schriftsteller ein und aus. Mit Gästen wie Joyce, Svevo, Rilke oder Saba, später mit Giorgio Voghera oder Fulvio Tomizza avancierte es zum Café der Literaten – der ideale Ort, um sich in Gespräche, ein Buch oder in die Arbeit zu vertiefen.
Heute ist es als Stammlokal des italienischen Schriftstellers und Germanisten Claudio Magris bekannt, für den stets ein Tisch reserviert ist. Seit 2013 knüpft eine integrierte Buchhandlung an die literarische Tradition des Kaffeehauses an.
Das Buch “Lesereise Triest” von Susanne Schaber
Über die Autorin
Susanne Schaber wurde 1961 in Innsbruck geboren und ist mit dem Blick über die Berge und Grenzen aufgewachsen.
Nach dem Studium der Germanistik und Anglistik arbeitete sie als Dramaturgin und Lektorin und lebt heute als Literaturkritikerin, Herausgeberin und Autorin in Wien.
Hier gibt’s das Buch “Lesereise Triest”
Erschienen 2021 im Picus Verlag
132 Seiten
Gebundene Ausgabe
ISBN 978-3-7117-1108-3
“Lesereise Triest” beim Verlag kaufen
Foto rechts: Lesereise Triest, Picus Verlag
Fazit
“Lesereise Triest” ist ein Buch, das mit muss!
Bei einem Besuch in Triest sollte man das Buch von Susanne Schaber stets mit sich tragen – auch, um in einem der Kaffeehäuser darin lesen zu können. Mit 222 Gramm wiegt es nicht schwer, eröffnet aber spannende Einblicke in das historische und zeitgenössische Triest.
“Lesereise Triest” ist ein etwas anderer Reiseführer, der Wissen unterhaltsam vermittelt und den Leser förmlich hineinzieht in die Geschichten aus der Stadt der Winde.
Mareike Dietrich
Textgestalterin – Autorin
Als Innenarchitektin und Texterin gestaltet Mareike Ideen, Räume und Sprache. Für Glücksmomente Charmingplaces berichtet sie über alles, was ihr am Herzen liegt und sie selbst glücklich macht.
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