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Was sehen wir, wenn wir in einem getakteten Besucherstrom in höchstens 45 Minuten durch die Schlösser Neuschwanstein und Hohenschwangau geführt werden? Die Prunksucht eines irren Königs? Die Allmachtsfantasien eines Herrschers von Gottes Gnaden? Oder gelingt es uns, den Menschen hinter dem touristisch inszenierten Mythos zu erkennen?
Wer war dieser Monarch, der noch immer Anlass zu Spekulationen und Interpretationen gibt? Erst die genauere Beschäftigung mit Ludwigs Persönlichkeit macht verständlich, was schon zu seiner Zeit als exzentrisch galt und uns heute noch in Staunen versetzt. Das Wissen um die biografischen Hintergründe vermenschlicht die Kultfigur des „Märchenkönigs“. So können wir uns über die Distanz von fast 140 Jahren in Ludwigs Seelenleben einfühlen und eine persönliche Beziehung jenseits des Klischees aufbauen. Wenn wir uns bemühen, Ludwigs Bauwerke durch seine träumerischen Augen zu sehen, wird der Besuch seiner Schlösser zu einem noch eindrucksvolleren Erlebnis.
Schloss Hohenschwangau und die „Neue Burg Hohenschwangau“ (Schloss Neuschwanstein) Foto: Helmut H. Kroiss auf Pixabay
Der andere, wahre und echte König
Vielleicht möchten Sie bei der Annäherung an Ihr Urlaubsziel im Allgäu auch dem „Kini“ etwas näherkommen? Die rund 170-seitige Ludwig-Biografie von Markus Spangenberg lässt sich leicht auf einer längeren Bahnfahrt durchlesen. Bei kürzerer Anreise verschafft die Zeittafel im Anhang einen Überblick über Ludwigs wenige, aber ereignisreiche Lebensjahre von 1845 bis 1886 sowie den historisch-politischen Kontext. Das klar gegliederte und flüssige geschriebene Buch aus der Reihe ‚Kleine bayerische Biografien‘ überzeugt außerdem durch die grau hinterlegten Textpassagen, die sich als thematische Exkurse gut häppchenweise lesen lassen.
Der Kunsthistoriker zeichnet ein vielschichtiges und lebendiges Charakterbild des „anderen Königs“, wie der Untertitel seines Buches lautet. Mithilfe von Zitaten aus Ludwigs Tagebüchern und privater Korrespondenz skizziert er das psychologische Profil eines feinsinnigen Ästheten, der nicht zur Realität seiner Zeit passte und sich eine fantastische Parallelwelt erschuf.
Links: Porträtfoto des 22-jährigen König Ludwig II. von 1867 Rechts: Eine der letzten fotografischen Aufnahmen von König Ludwig II., ca. 1883 Fotos: Joseph Albert, Public domain, via Wikimedia Commons
Ludwig nahm sich selbst als „anders“ wahr. „Ich bin einfach anders gestimmt, als die Mehrheit meiner Mitmenschen“, bekannte er. Seine Schwierigkeiten im zwischenmenschlichen Umgang zeigten sich in schon in Kindesjahren in Rückzugstendenzen oder despotischem Verhalten. Dies verstärkte sich im Erwachsenenalter weiter: Wie aus zeitgenössischen Quellen hervorgeht, war der spätere Regent von schwankendem Gemüt, sein Gebaren oft widersprüchlich. Psychologen erklären dies heute mit dem frühen Verlust der Amme als engster Bezugsperson und der viermonatigen Trennung des Säuglings von der Mutter in Ludwigs erstem Lebensjahr.
Sein mangelndes Zugehörigkeitsgefühl isolierte Ludwig ab 1864 in der Sonderstellung als gerade einmal 18-jähriger Monarch noch zusätzlich. Er entwickelte laut Spangenberg ein „unheilvolles Königsverständnis“ und sah sich in der Tradition des Gottesgnadentums nur diesem Rechenschaft schuldig. Seine religiöse Fixierung auf das „wahre, echte“ Königsamt entfremdete ihn vom Volk und politischen Geschehen. Zeitlebens bevorzugte er die Einsamkeit und suchte dennoch ständig nach einem seelenverwandten Vertrauten.
Bereits als Kind begeisterte sich Ludwig auffallend für Kunst, Literatur, Musik und Theater. Seine Mutter, Prinzessin Marie Friederike von Preußen, hielt in ihrer Chronik fest, wie Ludwig als Siebenjähriger fantasievolle Gebäude aus Bauklötzen errichtete. Überdies zeigte er „[…] Freude am Theaterspielen, liebte Bilder und dergleichen, hörte gern vorlesen und Geschichten erzählen und schenkte von Kindheit an gern anderen von seinem Eigentum, Geld und Sachen.“
Gemälde von Richard Wagner und König Ludwig II., 1890 Bild: Kurt von Rozynski, Public domain, via Wikimedia Commons
Ludwigs Kunstbegeisterung gepaart mit Freigiebigkeit sollte insbesondere die Beziehung zu Richard Wagner maßgeblich prägen. Seine Schwärmerei für den Leipziger Komponisten, die in einem zwei Jahrzehnte andauernden, äußerst großzügigen Mäzenatentum mündete, nahm mit 15 Jahren ihren Anfang. Am 2. Februar 1861 durfte Ludwig endlich eine ‚Lohengrin‘-Aufführung im Münchner Hof- und Nationaltheater besuchen und „vergoß darüber Tränen höchsten Entzückens“, wie ein Zeitzeuge berichtete. Marcus Spangenberg beurteilt diesen Opernbesuch als „wichtigen Wendetag“ im Leben des Kronprinzen, der – so schreibt er – „von nun an das gesamte Denken, Fühlen, Glauben und Schaffen des zukünftigen Königs bestimmen sollte“.
Schloss Hohenschwangau: Ein Bilderbuch der Märchen und Sagen
Um die Prägungen des jungen Ludwig und seine leidenschaftliche Verehrung Wagners nachempfinden zu können, ist ein Besichtigung von Schloss Hohenschwangau zu empfehlen. Ludwigs Vater, Kronprinz Maximilian II., erwarb 1832 die verfallene Burg aus dem 12. Jahrhundert und ließ den einstigen Stammsitz der Ritter von Schwangau unter Wahrung der „ursprünglichen mittelalterlichen Gestalt“ im neugotischen Stil wiederaufbauen.
Die reich dekorierten Innenräume des Schlosses sind mit Darstellungen aus deutschen Heldensagen ausgemalt, die Ludwig von Kindesbeinen an inspirierten. Der von Gott gesandte Schwanenritter Lohengrin entwickelte sich zu einer wichtigen Identifikationsfigur des Königs, die Wagner in seinen Inszenierungen zum Leben erweckte.
Hohenschwangau blieb bis zu Ludwigs frühem Ende sein bevorzugtes Refugium. Wenige Monate nach seiner Thronbesteigung ließ er hier seine ersten Einrichtungsideen ausführen. Das Schlafgemach des verstorbenen Vaters wurde von Theaterfachleuten in eine technische Wunderkammer mit Regenbogenmaschine und Sternenhimmel verwandelt. Ludwig holte im Tassozimmer die Natur nach Innen, in die er sich regelmäßig zurückzog. Viel öfter als in seinen Schlössern und in der ungeliebten Residenzstadt München hielt er sich in abgelegenen Berghütten auf. Hier lebte er auf, wie er 1867 er an Wagner schrieb: „in wonniger Einsamkeit, fern der Welt, die stets mich verkennt“.
Das berühmteste Bauwerk Ludwigs, das Märchenschloss der Deutschen, ist das Resultat seiner höchsten Ideale und tiefsten Wünsche. Innerlich zerrissen zwischen den prosaischen Regierungspflichten und seinen poetischen Neigungen, zwischen den Einschränkungen des Hofzeremoniells und dem Wunsch nach Freiheit entwickelte sich Neuschwanstein zum Symbol der Erlösung von seinen weltlichen Leiden. Eine Gegenwelt fernab der Residenzstadt, in der er die bayerischen Souveränitätsverluste durch den Bund mit Preußen verdrängen konnte.
Schloss Neuschwanstein von der Marienbrücke gesehen Foto: Qubes Pictures auf Pixabay
Mit fortschreitender Menschenscheu und wachsendem Selbstanspruch an seine Königswürde änderte Ludwig II. das Bauprogramm Neuschwansteins. Die Gästezimmer wurden aus dem Raumprogramm gestrichen. Das bescheidene Audienzzimmer verwandelte sich in einen pompösen Thronsaal, welcher der byzantinischen Kirche Hagia Sophia nachempfunden ist. Diese soll vermutlich das Vorbild für eine mittelalterliche Beschreibung des fiktiven Gralstempels gewesen sein. Im Zusammenspiel mit den Wandmalereien, die heiliggesprochene Könige darstellen, verband Ludwig hier – wie Spangenberg ausführt – „zwei Ideenwelten: die vom Gottesgnadentum und die von der Macht des Grals.
Thronsaal in Schloss Neuschwanstein, Photochromdruck nach einem Schwarzweiß-Foto von 1886 Foto: Josef Albert, Public domain, via Wikimedia Commons
Als feinfühliger und emotionaler Mensch wollte Ludwig lieben und geliebt werden, wie zahlreiche schwärmerische Briefwechsel belegen. Jedoch waren seine homoerotischen Fantasien, die er in Tagebucheinträgen andeutet, zu seiner Zeit und in seiner Stellung alles andere als salonfähig. Mit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 wurde die „widernatürliche Unzucht“ zwischen Männern wieder in ganz Deutschland strafbar. 58 Jahre zuvor hatte Bayern als erster deutscher Staat die Bestrafung gleichgeschlechtlicher Handlungen gänzlich abgeschafft.
Die anhaltenden Versuche, sich seiner Veranlagung zu widersetzen, kosteten ihn viel Kraft und steigerten seine Verzweiflung. „Er war nicht rein und sündelos wie Lohengrin oder Parzival, so sehr er auch nach diesem Ideal strebte“, hält Spangenberg in seiner Ludwig-Biografie fest.
Schlafzimmer der Königswohnung in Schloss Neuschwanstein, Photochromdruck nach einem Schwarzweiß-Foto von 1886 Foto: Josef Albert, Public domain, via Wikimedia Commons
Die Ausgestaltung des königlichen Schlafzimmers in Neuschwanstein mit Szenen aus Tristan und Isolde erzählt von unerfüllter Liebe und (Todes-)Sehnsucht. Das Relief der Auferstehung Christi am Fußende des Bettes lässt sich als Wunsch nach Erlösung von seinen Begierden deuten. Angesichts der grabmalartigen Ruhestätte wundert es nicht, dass Ludwigs mysteriöser Tod, nur zwei Jahre nach Fertigstellung des Gemaches, Spekulationen über Selbstmord auslöste.
Unerfüllt blieb auch die letzte architektonische Liebhaberei des Königs. Obwohl die Schösser Neuschwanstein und Herrenchiemsee noch unvollendet waren und Ludwig sich bereits mit 8,25 Millionen verschuldet hatte, erwarb er 1884 heimlich die Burgruine auf dem 1.270 m hohen Falkenstein bei Pfronten. Im Wiederaufbau der höchstgelegensten mittelalterlichen Burg Deutschlands sollten die Beschwörungen all seiner Ideale gipfeln, hier sollte sich sein Lebenswerk krönen.
Schon vor dem Kauf ließ Ludwig vom Theatermaler Christian Jank einen Idealentwurf anfertigen, der sich aber angesichts der geringen Platzverhältnisse auf dem Berggipfel als unausführbar erwies. An den zuständigen Münchner Hofstellen vorbei wurde der Regensburger Oberbaurat Max Schultze als leitender Architekt beauftragt. Ihm fiel die schwierige Aufgabe zu, Ludwigs hochfliegende Pläne mit der Realität zu vereinen.
Links: Utopischer Entwurf des Theatermalers Christian Jank für die neue Burg Falkenstein, 1883 Bild: Christian Jank, Public domain, via Wikimedia Commons Rechts: Der Realität angepasster Entwurf des Oberbaurats Max Schultze, 1884 Bild: Max Schultze, Public domain, via Wikimedia Commons
1885 waren Ludwigs Schulden auf rund 14 Millionen Mark angewachsen. Dennoch weigerte er sich, das Bauen zu unterlassen und ließ stattdessen den Falkenstein mit einem neuen Burgweg und einer Wasserleitung erschließen. Ludwigs Denken wurde ganz von der Gestaltung des überkuppelten Schlafzimmers beherrscht, das sich als sakraler Weiheraum des Königtums im Zentrum der Burganlage befinden sollte.
Im September des Jahres gab Schultze seinen Auftrag zurück. Er sah keine Chance, die immer größer und grandioser werdenden Raumwünsche des Königs umzusetzen. Ludwig beauftragte daraufhin den Architekten Julius Hoffmann, der auch seine anderen Schlossbaustellen betreute, mit der Fortführung des Projekts.
Am 13. Juni 1886 wurde in dessen Büro gerade das Schlafzimmer erneut umgeplant, als eine Nachricht eintraf, die alle Bemühungen hinfällig machte: Der vom Ministerrat abgesetzte, für geisteskrank erklärte und einen Tag zuvor verhaftete König war im Starnberger See ertrunken. Das für die Burg Falkenstein vorgesehene Altarbett sollte nicht zu Ludwigs letzter Ruhestätte werden. Auf dem Falkenstein steht heute noch immer die Ruine, die Ritterburg des Märchenkönigs blieb ein Luftschloss.
Die trotz hoher Verschuldung nicht zu bremsende Bautätigkeit Ludwigs wurde und wird noch heute als Anzeichen von Dekadenz und Größenwahn interpretiert, als Mittel zur Machtdemonstration und Selbstverherrlichung. Wenn wir uns aber genauer mit seiner Biografie beschäftigen, und dann genauer hinsehen, können wir in jeder Rauminszenierung, hinter all dem überwältigenden Prunk, ein unverstandenes und alleingelassenes Kind entdecken. Ludwig II. suchte sein Heil in der Kunst. Er versuchte in seinen Bauten die Reinheit, Schönheit und Vollkommenheit zum Ausdruck zu bringen, die er in seinem Inneren nicht finden konnte.
„Und wenn wir beide längst nicht mehr sind, wird doch unser Werk noch der spätern Nachwelt als leuchtendes Vorbild dienen, das die Jahrhunderte entzücken soll, und in Begeisterung werden die Herzen erglühen für die Kunst, die gottentstammte, die ewig lebende!“ (Ludwig II. an Richard Wagner am 4. August 1865)
Auf den Spuren Ludwigs II. im Allgäu
Eintrittskarten und weitere Informationen zu den Königsschlössern in Hohenschwangau erhalten Sie unter hohenschwangau.de. Ein Besuch im Museum der Bayerischen Könige rundet den kulturellen Exkurs in die Welt der Wittelsbacher ab.
Der Zugang zur Burgruine Falkenstein ist jederzeit möglich. Vom Parkplatz des unterhalb gelegenen Burghotels sind es etwa fünf Minuten Fußweg bis zur Ruine. Von der Aussichtsplattform kann man inmitten des Allgäuer Alpenpanoramas auch Schloss Neuschwanstein erspähen.
Buchempfehlung zu unserem Kulturtipp Allgäu
Marcus Spangenberg
Ludwig II.– Der andere König
Erschienen im Friedrich Pustet Verlag am 07.10.2015
Als Innenarchitektin und Texterin gestaltet Mareike Ideen, Räume und Sprache. Für Glücksmomente Charmingplaces berichtet sie über alles, was ihr am Herzen liegt und sie selbst glücklich macht.
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