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Überall auf Sardinien gibt es kleine Werkstätten und lokale Museen, in denen man Kunsthandwerker*innen bei der Arbeit über die Schulter schauen kann. Die Kultur des sardischen Kunsthandwerks bezaubert durch ihre leuchtenden Farben, eigenständige Ornamentik und sinnliche Materialität.
Seit Jahrhunderten werden auf der Mittelmeerinsel kunstvolle Gebrauchsgegenstände gefertigt; meist aus landestypischen Materialien wie Ton, Kork, Kastanienholz, Schafswolle, Korallen und Silber. Nützliche Keramikobjekte, Holz- und Korbwaren, Webteppiche, bestickte Textilien sowie Glas- und Schmiedearbeiten bereicherten bereits in der Antike den Alltag. Noch heute sind in den handwerklichen Produkten Sardiniens prähistorische, römische und byzantinische Einflüsse zu erkennen.
Die Sarden pflegen ihre überlieferten Bräuche mit Hingabe. Dank ihres alten Wissens konnten sie sich ihre Identität und Unabhängigkeit stets bewahren. Die Techniken der sardischen Handwerkskunst werden als immaterielles Erbe von Generation zu Generation weitergegeben. Zeitgenössische Künstler*innen erhalten die Tradition lebendig, indem sie überlieferte Elemente mit innovativen Ideen verbinden.
Su strexu de fenu: Gefäße aus Heu
Bei den sardischen Flechtwaren lassen die verwendeten Rohstoffe die regionale Herkunft erkennen. Im Landesinneren werden die Körbe üblicherweise aus Affodill geflochten, in Meeres- oder Seenähe aus Binsen, Weizen oder Zwergpalmen. Traditionelle Zentren des Affodill-Flechtens sind die Ortschaften Ollolai, Sennori, Montresta und Flussio, die allesamt im Norden der Insel liegen. In Flussio kann man im Museo diffuso dell’Asfodelo viel über die Korbherstellung aus naturbelassenen Affodill-Stielen erfahren.
Auf der alljährlichen Korb- und Kunsthandwerksmesse in Sinnai – der Fiera del cestino e dell’artigianato – findet man die für Südsardinien typischen, flachen Binsenkörbe. Traditionsgemäß werden sie mit roten oder schwarzen Mustern verziert – wobei schwarze Verzierungen ursprünglich Trauergaben vorbehalten waren. Mehrfarbige Verzierungen wurden früher nur bei Tanz- und Jagdmotiven ausgeführt. Das Flechten eines Korbes dauert je nach Größe, Form und Komplexität des Motivs oft mehrere Tage.
Im Museo dell’Intreccio mediterraneo in Castelsardo sind neun Themenräume den verschiedenen Anwendungsbereichen der Flechtkunst gewidmet. Der Besuch des Museums lohnt sich – auch weil es in einer sehenswerten mittelalterlichen Festung untergebracht ist.
Pibiones: Körnchen der Erinnerung
Die Webkunst fand vor etwa 3.000 Jahren ihren Weg aus dem Nahen Osten nach Sardinien. Seitdem entstehen auf der Insel Teppiche und Stoffe von außergewöhnlicher Schönheit und Machart. Vielerorts nach wie vor in liebevoller Handarbeit, ganz ohne maschinelle Hilfe. Kein Wunder, dass das Knüpfen eines einzelnen Teppichs mehrere Wochen in Anspruch nimmt. Meist wird für die Herstellung der Teppiche Schafwolle verwendet, aber es kommen auch pflanzliche Textilfasern wie Baumwolle, Leinen und Hanf zum Einsatz. Das Garn wird vorwiegend mit natürlichen Pflanzenfarben gefärbt. Jedes handgefertigte Stück ist ein wertvolles Unikat.
Als typisch sardisch gelten geometrische Webmuster, die häufig stilisierte Pflanzen, Tiere oder Menschen darstellen. Pibiones ist wohl die bekannteste unter den klassischen Webtechniken Sardiniens. Durch Verdrehen des Garns entstehen kleine Körner in der Größe von Traubenkernen, die dem Gewebe eine dreidimensionale Reliefstruktur verleihen. Es scheint, als wären in den Stoff Geschichten eingeschrieben – in einer Art Blindenschrift, die erst entschlüsselt werden muss. Als wären die abstrakten Muster gewebte Erinnerungen an die Ahnen, die diese Kunst nach Sardinien gebracht und in jeder Generation weiter verfeinert haben.
Die im Hinterland gelegenen Dörfer Samugheo und Mogoro sind im Sommer Schauplatz der wichtigsten Handwerksmessen der Insel. Auf der Tessingiu in Samugheo und der Fiera dell’Artigianato artistico della Sardegna in Mogoro wird die ganze Vielfalt der sardischen Handwerkskunst präsentiert. Alternativ oder zusätzlich bietet sich in Samugheo ein Besuch des Museo Unico Regionale dell’Arte Tessile Sarda (MURATS) an.
In den Hochburgen der traditionellen Webkunst hat die moderne Welt bereits Einzug gehalten: Einige sardische Kunsthandwerker*innen gehen Kooperationen mit internationalen Künstlern und Designern ein und stellen auf Messen im Ausland aus. Als Vorreiterin für die Erweiterung des traditionellen Gestaltungsrepertoires gilt Mariantonia Urru, Gründerin des gleichnamigen Familienunternehmens in Samugheo.
Pretziada: Wertvolles erhalten und gestalten
Mariantonia Urru arbeitet unter anderem mit dem Kreativduo Pretziada zusammen, das sich zur Aufgabe gemacht hat, das kulturelle Erbe Sardiniens zu erforschen und in die Welt zu tragen. Das aus New York zugezogene Paar kuratiert die Neuinterpretation klassischer Stücke, lädt internationale Designer zu Workshops auf die Insel ein und unterstützt die einheimischen Kunsthandwerker in ihrer zukünftigen Entwicklung. Die interdisziplinär entstandenen Kollektionen aus handgefertigten Unikaten findet man im Webshop von Pretziada, in ausgewählten Geschäften weltweit oder vor Ort bei Galinanoa in Cagliari.
Womit wir bei den Einkaufstipps wären – denn was gibt es Schöneres, als ein Stück Urlaub mit nach Hause zu nehmen? Souvenirs erwerben wir mit dem Wunsch, unsere Erlebnisse zu materialisieren und Erinnerungen lebendig zu erhalten. Von dieser Sehnsucht nach Nachhaltigkeit sollten wir uns auch bei der Kaufentscheidung leiten lassen. Wie überall werden auf Sardinien Plagiate und Billigwaren aus Fernost angeboten. Unsere Empfehlung ist, die abendlichen Touristenmärkte (Mercatinos) zu meiden und direkt in den Werkstätten einzukaufen. Eine gute Wahl sind auch die erwähnten Kunsthandwerksmessen oder der I.S.O.L.A. Store in Cagliari. Weitere empfehlenswerte Geschäfte haben wir unter dem Artikel für Sie verlinkt.
Für Daheimgebliebene und Sofareisende hat Sardegna Turismo ein virtuelles Schaufenster eingerichtet. Darin sehen Sie die zwölf wichtigsten Handwerkszweige Sardiniens mit ausgewählten Produkten und Kunsthandwerker*innen. Lassen Sie sich inspirieren!
An dieser Stelle ließe sich noch über viele Handwerksprodukte Sardiniens Interessantes berichten – etwa über die reich dekorierten Töpferwaren, kunstvoll bestickten Trachten oder individuell angefertigten Klappmesser. Sie alle verbinden das Nützliche mit dem Schönen und sind aus dem Alltagsleben der Sarden nicht wegzudenken. Aber vielleicht machen Sie sich selbst ein Bild? Auf charmingplaces.de finden Sie unter dem Reiseziel Sardinien alles, was Sie für Ihre Reiseplanung brauchen.
Hier gibt’s das echte sardische Kunsthandwerk
Le Botteghe di Su Gologone, c/o Experience Hotel Su Gologone, Loc. Su Gologone, 08025 Oliena
Galinanoa, Via Baylle 7, 09124 Cagliari
I.S.O.L.A. Store, c/o T Hotel, Via dei Giudicati 66, 09131 Cagliari
Paoli Concept Store, Via Pasquale Paoli 9, 09128 Cagliari
Virtuelles Schaufenster mit Atelieradressen
Mareike Dietrich
Textgestalterin – Autorin
Als Innenarchitektin und Texterin gestaltet Mareike Ideen, Räume und Sprache. Für Glücksmomente Charmingplaces berichtet sie über alles, was ihr am Herzen liegt und sie selbst glücklich macht.
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