Diesen Beitrag als Podcast hören
Foto oben: Lübecker Museen, Michael Haydn
Als erster deutscher Schriftsteller erhielt Günter Grass schon zu Lebzeiten eine Gedenkstätte. Er verstarb 2015 in Lübeck, 13 Jahre nachdem das Günter Grass-Haus in der dortigen Glockengießerstraße seine Türen öffnete.
Das modern gestaltete Museum im historischen Altstadthaus versteht sich als Forum für Literatur und Bildende Kunst. Museumsleiter Jörg-Phillip Thomsa fokussiert in seiner Forschungs- und Vermittlungsarbeit das Zusammenwirken beider Fachgebiete.
Aufwändig inszenierte Ausstellungen zeigen die mannigfaltigen Verbindungslinien in Grass‘ Wort- und Bildwelten auf. In Sonderausstellungen und einer Bibliothek der Doppelbegabungen werden weitere interdisziplinär arbeitende Schriftsteller:innen gewürdigt. Unter ihnen auch Robert Gernhardt, über dessen Texte und Skizzen wir bereits in einem Medientipp berichteten.
20 Jahre Günter Grass-Haus
Bevor Sie sich in den Sattel schwingen und die 46 km lange Strecke über Grass‘ Alterswohnsitz Behlendorf zur Eulenspiegelstadt Mölln zurücklegen, sollten Sie unbedingt Zeit für den Besuch des Günter Grass-Hauses einplanen.
Zum 20-jährigen Bestehen im Oktober 2022 hat die Dauerausstellung eine Rundum-Erneuerung erfahren. Die mit Das ist Grass betitelte Schau bietet seit Anfang März einen chronologischen Überblick über die Lebens- und Schaffensphasen des politisch wie künstlerisch aktiven Intellektuellen. Beliebte Attraktionen wie der Kolonialwarenladen aus der „Blechtrommel“ wurden überarbeitet, neue Originalexponate der Sammlung hinzugefügt.
Neben Ausstellungsstücken zum Anfassen warten virtuelle Erlebnisse auf experimentierfreudige Besucher:innen, realisiert mit modernster Augmented-Reality-Technologie.
Greifbare Dinge finden sich wiederum im Skulpturenhof, der den Gästen des Hauses das bildhauerische Schaffen von Günter Grass nahe bringt. Der lauschige, rosenumrankte Platz lädt förmlich dazu ein, eine Zeitlang zu bleiben und die Eindrücke der Ausstellung zu reflektieren. Oder einfach einen kunsterfüllten Glücksmoment unter freiem Himmel zu genießen.
Apropos Zeit
Idealerweise widmen Sie dem vielseitigen Werk des künstlerischen Multitalents ein oder zwei Tage Ihres Aufenthalts in der Hansestadt Lübeck in Schleswig-Holstein. Rechnen Sie allein für die Tour de Grass mit 6 bis 8 Stunden. Wie lange Sie letztendlich brauchen, hängt davon ab, wie ausführlich Sie sich mit den interaktiven Erlebnisstationen befassen.
Und natürlich davon, ob Sie beide Strecken mit dem Rad fahren oder mit dem Zug zurückreisen. Der stündlich verkehrende Regionalexpress benötigt rund 30 Minuten von Mölln nach Lübeck. Dank dieser bequemen Rückreiseoption eignet sich die Tour für alle Generationen und sportlichen Leistungsniveaus.
Schreiben gegen das Vergessen
Aber lassen Sie uns zunächst noch ein wenig am Ausgangspunkt verweilen und einen Blick auf den Menschen Günter Grass werfen, dem das Museum gewidmet ist.
Zeit seines Lebens verstand sich der 1927 in Danzig geborene Grass nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Maler, Grafiker und Bildhauer. Er sagte über sich: „Wort und Bild haben meine Arbeit von Anfang an bestimmt. Ich bin gelernter Bildhauer und Grafiker, als Autor bin ich Autodidakt.“
Seine Vorgehensweise beim Schreiben sei wie folgt: „Ich glaube, das Entscheidende ist, dass ich wahrscheinlich meine Arbeitsmethode von der Bildenden Kunst her entwickelt habe. Von der Bildhauerei, wo der zu bearbeitende Gegenstand möglichst lange eine raue Oberfläche haben muss. Er darf sich nicht zu früh schließen. Zu frühe Glätte verbirgt nur Fehler in der Konstruktion. Daher das dauernde Offenlassen des Manuskripts.“
Nach seiner Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft absolvierte der damals 20-jährige eine Ausbildung als Steinmetz in Düsseldorf. Anschließend studierte Günter Grass von 1948 bis 1956 Grafik und Bildhauerei an der Düsseldorfer Kunstakademie sowie an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin.
Gegen Ende seines Studiums begann Günter Grass zudem schriftstellerisch tätig zu werden und trat der gesellschaftskritischen literarischen Vereinigung Gruppe 47 bei. Drei Jahre später sollte er mit seinem Debütroman „Die Blechtrommel“ internationale Aufmerksamkeit erregen und zu einem der meistgelesenen Autoren der deutschen Nachkriegsliteratur avancieren.
Die Umschläge seiner Bücher gestaltete er selbst, seine handschriftlichen Manuskripte waren stets mit Skizzen durchsetzt.
Der zweite Weltkrieg und die politische Lage in Deutschland war und blieb auch in den folgenden Werken sein Thema. Günter Grass schrieb und zeichnete „gegen das Vergessen“, er wollte nicht hinnehmen, dass die deutsche Vergangenheit verdrängt wird. Die Schrecken der Hitler-Diktatur und der Nazi-Zeit versuchte der Autor mit den Mitteln der Groteske zu bannen. In seinen Erzählungen schuf er Narren und Schelme, die der Gesellschaft den Spiegel vorhielten.
„Vergegenkunft“ nannte er seine Bemühungen, Vergangenes aus der Perspektive des Jetzt gegenwärtig zu machen. Erst 2006 bekannte Grass in der Autobiografie „Beim Häuten der Zwiebel“, dass er selbst im Alter von 17 Jahren der Waffen-SS angehört habe.
Als leidenschaftlicher politischer Mahner regte Günter Grass immer wieder wichtige Debatten an, wurde zur Kultfigur einer sich als kritisch und aufgeklärt verstehenden Öffentlichkeit. Er engagierte sich für die Demokratie, den Umweltschutz, gegen soziale Ungleichheit und setzte sich für die Belange von Minderheiten ein. All diese Themen beschäftigen uns heute mehr denn je.
Grass und die Landschaft
Die letzten 30 Jahre seines Lebens verbrachte Günter Grass mit seiner Frau Ute in Behlendorf, einer kleinen Gemeinde südlich von Lübeck. Von ihrem „Wurzelschlaghaus“ am Waldrand aus unternahm der Vielgereiste immer wieder ausgedehnte Spaziergänge. Oft hatte er seine Staffelei dabei, um in der Natur zu malen. Auf oder inspiriert von seinen Naturexkursionen entstanden eine Vielzahl von Landschaftsaquarellen, Zeichnungen und Lithografien.
Übrigens: Fahrradfahren konnte der Künstler nicht, er setzte sich aber gerne hinter seine Frau Ute aufs Tandem.
Fahren wir nun endlich hinaus aus der Stadt und hinein in die idyllische Landschaft des Stecknitztals!
Vor dem Start sollten Sie die kostenlose „Tour de Grass Augmented-Reality-App” hier heruntergeladen haben. Eine Handy-Halterung am Fahrrad und eine Powerbank werden Ihnen unterwegs wertvolle Dienste leisten. Bedenken Sie bei der Fahrradwahl, dass die Strecke teilweise über unebenes, nicht asphaltiertes Gelände verläuft.
24 Stationen mit interaktiven Erlebnissen und virtuellen Fundsachen warten darauf, von Ihnen entdeckt zu werden. Wenn Sie die Fundsachen mithilfe der App einsammeln, erhalten Sie nach und nach Trophäen. Eifrige Schatzsucher und Radler werden zum Schluss mit einer besonderen Auszeichnung belohnt und dürfen sich eine Überraschung im Museum abholen.
Wer es eher klassisch mag, wird sich über die interessanten Anekdoten aus dem Leben des Literatur-Nobelpreisträgers freuen – als O-Ton oder erzählt von Katharina Thalbach, die für die App auch Grass’sche Textpassagen und Gedichte mit ihrer eindrucksvollen Stimme eingesprochen hat.
Folgen Sie dem unterhaltsamen Erzählfluss entlang des Elbe-Lübeck-Kanals durch das Herzogtum Lauenburg, das für den gebürtigen Danziger zur Ersatzheimat wurde. Lübeck ist nicht ums Eck? Dann lassen Sie sich von einer Doku des NDR mit auf Tour nehmen. Viel Spaß mit Grass!
Mareike Dietrich
Textgestalterin – Autorin
Als Innenarchitektin und Texterin gestaltet Mareike Ideen, Räume und Sprache. Für Glücksmomente Charmingplaces berichtet sie über alles, was ihr am Herzen liegt und sie selbst glücklich macht.
Mehr über Mareike erfahren