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Header-Bild unseres “Buchtipp Zugspitze”: Rudolf Reschreiter Der Zugspitzgipfel, Public Domain via Wikimedia Commons
Über Deutschlands höchsten Berg kursieren viele Geschichten – wahre, halbwahre und frei erfundene. Die meisten sind naturgemäß Bergsteigerlatein und für Nicht-Alpinisten vermutlich weniger interessant.
Anders verhält es sich mit Stefan Königs bewegendem Roman „Auf dem hohen Berg“, der im Winter 1906 auf dem Zugspitzgipfel spielt (unser Buchtipp Zugspitze). Die fiktive Erzählung über einen Wetterwart, welcher dort acht Monate in völliger Weltabgeschiedenheit seinen Dienst verrichten soll, wurde von den Aufzeichnungen Josef Enzensbergers inspiriert.
Enzensberger verbrachte als erster Meteorologe den gesamten Winter in der anno 1900 eingeweihten Wetterstation auf der Zugspitze, allein und eingeschneit auf fast 3000 Meter Höhe. Sein einziger Kontakt zur Außenwelt war das tägliche Telefonat zur Meldung der Wetterprognose ins Tal.
Schon beim Gedanken daran mag es uns, an ständige Erreichbarkeit und Vernetztheit gewöhnt, kalt den Rücken herunterlaufen. Und kalt kann es werden, im Winter auf der Zugspitze!
Romantische Robinsonade
Gut, dass König in seinen – an Defoes Robinson-Motiv angelehnten – Bergroman viel romantische Wärme einfließen lässt. Nur eine Woche muss sein Protagonist, der junge Wetterwart Anselm Straub, einsam ausharren. Dann findet er im Schneesturm vor der Tür eine fast erfrorene Frau.
Die abenteuerlustige Großkaufmannswitwe Lidia von Berneis hat es trotz Wintereinbruch im Oktober allein auf den Gipfel geschafft. Nach ihrer Genesung wird sie zum „Freitag“ auf Straubs einsamer Insel. Denn an einen Talabstieg ist wegen Lawinengefahr bis zum Frühjahr nicht zu denken. Und Straub meldet ihre Anwesenheit nicht ins Tal.
„Ich hätte es melden müssen, dachte er. Und er fragte sich, wie schon oft in den vergangenen Tagen, was ihn davon abgehalten hatte. Warum habe ich den Kollegen nichts gesagt? Warum verheimliche ich die Angelegenheit?
Eine Erklärung, die sich nach und nach gleichsam eingestellt hatte, war die, dass seine Verlobte beunruhigt wäre, eifersüchtig, weil er ja jetzt zumindest Wochen gemeinsam mit dieser Frau auf dem Berg zu leben haben würde. Aber er fühlte mehr, als dass er es wusste, dass dies nicht sein Hauptmotiv gewesen war.“
Aus anfänglicher Distanz entwickelt sich zögerlich Nähe, dann eine utopische Romanze. Sensibel schildert der Autor das erzwungene Zusammenleben von zwei grundverschiedenen Menschen auf engstem Raum. Durch die allwissende Erzählperspektive und die sinnliche Sprache gelingt es ihm, den Leser mit hineinzunehmen in dieses intime Kammerspiel.
Gerade einmal 16 Quadratmeter groß ist die Wohnetage der Wetterstation. Eine eng begrenzte Sphäre, die den beiden jedoch mehr Freiheit bietet, als es anderswo zur Zeit der Jahrhundertwende möglich gewesen wäre. Gesellschaftliche Konventionen bleiben außen vor.
Der große Altersunterschied (die 42-jährige Witwe ist 15 Jahre älter als der Wetterwart), ihre unterschiedliche soziale Herkunft, Straubs Verlobung … all das spielt für die Verliebten mit der Zeit keine Rolle mehr. Ihre Welt ist auf das Wesentliche reduziert.
Höhenstürme, Wetterstürze, Gefühlskapriolen
Eingeschlossen in ihrem Rapunzelturm haben sie vor allem eines genug: Zeit zu zweit. Sie hören Musik (Straub hat tatsächlich ein Grammophon samt einiger Schallplatten auf den Berg getragen), erzählen sich voneinander und lesen sich vor. Es ist Lidia, die in der Silvesternacht die Initiative ergreift und den noch unerfahrenen Straub in die Geheimnisse der Erotik einführt.
Mit zunehmender Leidenschaft füreinander mehren sich jedoch auch die inneren und äußeren Konflikte. Eine gemeinsame Zukunft ist zunächst nur schwer vorstellbar. Die Probleme würden bereits an dem Tag beginnen, an dem die Bergführer Straub am Zugspitzgipfel abholen. Welche Schande für das heimliche Liebespaar!
Königs Roman wirft moralphilosophische Fragen auf, die auch über 100 Jahre später noch aktuell sind. Vielleicht sind die Konflikte zwischen Gefühl und Verstand, Natur und Kultur, Individuum und Gesellschaft heute sogar brisanter denn je?
Stefan König lässt uns an den Gedanken beider Romanfiguren teilhaben. Er zeichnet anschauliche Bilder der Charaktere und inszeniert ihre emotionalen Höhen und Tiefen teilweise synchron zum Wettergeschehen. Wortwahl und Satzbau spiegeln die Zeit der Handlung wider, in intimen Situationen wechselt der Schreibstil jedoch geschickt ins Informelle.
„Ich kann sie doch nicht hierlassen, bis der Schnee geschmolzen ist, bis Bergsteiger heraufkommen, bis die Träger mich holen. Ich kann sie doch nicht kompromittieren … ausgeschlossen.
Was wäre das für ein Skandal, wenn die Welt davon erführe, wie er hier in wilder Ehe lebte …“
„Dorthin würde sie zurückkehren. In einigen Wochen, einem Vierteljahr, vielleicht erst in vier Monaten. Es mochte Gerede geben, gab es sicher längst. Aber es war ihr gleichgültig, war ihr eigentlich immer gleichgültig gewesen.
Aber was würde es geben, wenn sie Straub nachkommen ließe, wenn sie fortan mit ihm leben würde. Nicht auszudenken, wie übel ihr mitgespielt werden würde. Insbesondere von den Frauen.“
Nach einer Phase der Verdrängung holt die Realität Straub und Lidia ein. Auf den milden und harmonischen Januar folgt ein stürmischer Februar.
„Einige Tage lang taten sie einfach so, als ob sie nicht bald zu entscheiden hätten, wie ihr Leben weitergehen sollte, wenn sie dereinst den Gipfel verließen.
Einige Tage lebten sie in einer dünnluftigen Traumwelt, die es gestattete, die Zukunft auszublenden und glücklich zu sein in dem Gefühl, dass dieses Jetzt nicht mehr aufhören würde.“
Als ein Orkan über sie hereinbricht und die Wetterstation tagelang erzittern lässt, liegen die Nerven blank.
„Dieser Sturm war gewalttätig, aggressiv, unnachgiebig. Er schlug mit solcher Härte gegen die meteorologische Station, dass die Drahtseile, mit denen sie überspannt war und die sie fest am Felsen halten sollten, ächzten und heulten. Der Turm vibrierte so stark, dass Lidia und Straub es in jeder Haltung durch den ganzen Körper spürten: ob im Stehen, Sitzen oder Liegen, es war ihnen, als wären sie auf einem Schiff, das in schwerer Dünung stampfte und rollte. Das war an sich schon schlimm genug. Nur, dass sie sich hier, auf dem hohen Berg, noch einsamer und verlassener vorkamen als auf einem Schiff.“
Die Dramatik steigert sich noch, als nach kurzer Ruhepause unerwartet Besuch angekündigt wird. Eine Seilschaft will über den tief verschneiten, über 5 Kilometer langen Jubiläumsgrat zu ihnen vordringen – damals ein viel gewagteres Unterfangen als heute. Fünf Tage leben Straub und Lidia in der Angst entdeckt zu werden; befürchten, dass die Bergsteiger plötzlich vor der Tür stehen. Als sie vom Tod der Männer erfahren, sind sie entsetzt.
Dieses tragische Ereignis markiert den Wendepunkt der Geschichte. Die Zeit romantischer Verklärung ist vorbei. Eine Entscheidung muss getroffen werden.
Die wahre Gipfelgeschichte
Vor über 200 Jahren, am 27. August 1820, standen der Vermessungsoffizier Joseph Naus und seine Begleiter als erste Menschen auf der Zugspitze. Sie wählten den längsten, aber einfachsten Anstieg durch das deutsche Reintal. 1897 wurde das Münchner Haus, die Alpenvereinshütte auf dem Westgipfel, eröffnet.
Die Geschichte der Wetterstation auf der Zugspitze zeigt, wie die Bewegung des Alpinismus die Meteorologie am Ende des 19. Jahrhunderts gefördert hat. Die Zunahme des Bergsports im Süden von Deutschland verlangte nach Wetterinformationen für die Tourenplanung.
Dank gemeinsamer Bestrebungen konnten Meteorologen und Münchener Alpinisten am 19.7.1900 die Hochstation auf der Zugspitze einweihen. Anfänglich waren die Wetterwarte noch gezwungen, dort zu überwintern. Die Eröffnung der Zugspitzbahn im Jahr 1926 beendete dann die sogenannte „romantische Ära“ auf der Wetterstation.
Manchen Alpinisten mag es heute grausen vor dem mit Gebäuden und Seilbahnen verunzierten Gipfel. Andere scheint er dennoch magisch anzuziehen: An Spitzentagen im Sommer erklimmen bis zu 750 Bergsteigerinnen und Bergsteiger den höchsten Berg Deutschlands – und rund 6000 Gäste nutzen die Bahnen.
Die erste Winterbegehung des Jubiläumsgrates von der Alpspitze zur Zugspitze gelang übrigens am 19./20. März 1927 – viel später als in Königs Roman.
Unser Buchtipp Zugspitze – hier gibt’s das Buch
Erschienen im Berg & Tal Verlag am 30.10.2008
176 Seiten, Broschur
ISBN: 978-3-939499-15-2
Buchtipp Zugspitze / Foto: © Verlag Berg & Tal
Mareike Dietrich
Textgestalterin – Autorin
Als Innenarchitektin und Texterin gestaltet Mareike Ideen, Räume und Sprache. Für Glücksmomente Charmingplaces berichtet sie über alles, was ihr am Herzen liegt und sie selbst glücklich macht.
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