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Vom Dunkel ins Licht: Die berührende Biografie Giovanni Segantinis

Medientipp Lombardei - Giovanni Segantini

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Header-Bild für unseren Medientipp Lombardei: Giovanni Segantini Rückkehr in die Heimat, 1895 © Giovanni Segantini, Public domain, via Wikimedia Commons

Die Biografien mancher Menschen schaffen es, die Kluft der Zeit zu überbrücken und Lebensrealitäten zu verbinden, zwischen denen Jahrhunderte liegen. In ihnen treten die grundlegenden Themen des Menschseins so deutlich zutage, dass man trotz der Distanz eine tiefe Verbundenheit fühlt.

Die Lebensgeschichte des Trentiner Kunstmalers Giovanni Segantini, die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert ereignete, ist eine solche. Sie erzählt von kreativer Selbstermächtigung und emotionaler Sensibilität; sie fasziniert durch die simultane Entwicklung von Talent und Persönlichkeit.

Das Schönste, was ich sah

Mit ihrer 2011 erschienenen Romanbiografie ist es der deutschen Schriftstellerin Asta Scheib gelungen, uns den Maler und Menschen Segantini ganz nahe zu bringen. Lebendig und feinfühlig zeichnet die Autorin seinen Charakter nach. Zugleich widmet sie der Frau an Giovannis Seite, seiner großen Liebe Luigia Bugatti, ebenso viel Aufmerksamkeit.

Bei einer Reise in die Schweiz stieß Asta Scheib zufällig auf den zu Lebzeiten erfolgreichen und kunsthistorisch bedeutsamen, heute jedoch wenig bekannten Maler. Sein Werdegang entsprach ihrem literarischen Leitmotiv: „Meine Romanfiguren haben alle gemeinsam, dass sie in ein Schicksal hineingeboren worden sind, was ihnen nicht gemäß ist. Ich beschreibe dann, wie sie mit aller Kraft versuchen, sich ihre Stelle, die richtige Stelle, zu erarbeiten. Und das tut auch dieser Maler.“

Für die frühere Journalistin ist es selbstverständlich, akribisch für ihre Romane zu recherchieren. Scheib reiste an die Schauplätze von Segantinis Leben, führte persönliche Gespräche mit seinen Nachkommen und sichtete unveröffentlichtes Material.

Das Ergebnis ihrer intensiven Beschäftigung mit dem Sujet lässt sich lesen. Fast hat man den Eindruck, als wäre die Autorin dabei gewesen, vor über 100 Jahren, es scheint, als hätte sie die innige Beziehung zwischen Giovanni, Bice und ihren gemeinsamen Kindern miterlebt und die im Licht leuchtende Landschaft durch des Malers Augen gesehen. Sie lässt Segantini sagen:

„Ich beklage mich nicht über das Leben, das Leben ist gut. Meine Kindheit war traurig, meine Jugend beschwerlich, aber jetzt bin ich glücklich. Mit meiner Frau und den Kindern in meinem kleinen Chalet, mit meiner Kunst – mehr brauche ich nicht. Ich habe keinen Kummer, höchstens wenn die Sonne uns abends verlässt. An schönen Frühlingstagen, wenn die Alpenrosen aus moosigen Felsspalten hervorkommen, zartes grünes Gras auf der Wiese wächst und das feine Blau des Himmels sich in den klaren Augen des Sees spiegelt, erfüllt mich immense Freude, und ich spüre mein Herz fester schlagen.“

Werden – Die Entwicklung des Talents

Giovanni Segantini wurde 1858 in Arco am Gardasee geboren, das damals noch zu Österreich gehörte. Aus armen Verhältnissen stammend, verlor der vernachlässigte Junge mit sieben Jahren seine Mutter. Sein alkoholkranker Vater überantwortete ihn der älteren Halbschwester in Mailand, die das eigensinnige Kind aber ebenso wenig wollte.

Ihr ist es zuzuschreiben, dass Segantini bis zu seinem Tode staatenlos blieb. Sie gab seine österreichischen Papiere zurück, ohne die italienischen zu beantragen – weshalb er sein Leben lang auf der Flucht vor den Behörden war.

Nach zwei Jahren als Straßenkind und inzwischen Vollwaise verbrachte Giovanni den Rest seiner trostlosen Jugend in einer Mailänder Besserungsanstalt. Dort lernte er weder Lesen noch Schreiben, durfte aber seinem Zeichentalent nachgehen.

Segantinis Drang zum künstlerischen Ausdruck und seine beeindruckende Willensstärke führten dazu, dass er sich als 17-jähriger an der Mailänder Kunstakademie einschrieb. Der talentierte Student erregte schnell Aufsehen durch seine neuartige Darstellung des Lichts. Seine Kommilitonen an der Brera verliehen ihm den Künstlernamen „Segante“.

Während des Studiums verliebte sich Giovanni in die Schwester seines reichen Freundes Carlo Bugatti. Luigia, von ihm liebevoll Bice genannt, sollte sein Modell, seine Muse und Mutter seiner vier Kinder werden.

Obwohl die Verbindung zu Giovanni nicht standesgemäß war und sie ihn wegen seiner Staatenlosigkeit nicht heiraten konnte, wählte Bice das unkonventionelle und mittellose Leben an seiner Seite. Das einzige Einkommen bestand lange Zeit aus den unregelmäßigen Zahlungen des Mailänder Kunsthändlers Grubicy, der Segantinis Gemälde vermarktete und ihm Aufträge für Stillleben verschaffte.

Das junge Paar zog zunächst in die Brianza ganz im Süden am Comer See, wo Segantini begann, sich auf Darstellungen des bäuerlichen Lebens und lichtvolle Landschaftskompositionen zu spezialisieren.

Wie seine französischen Zeitgenossen Georges Seurat und Paul Signac begann er mit der additiven Farbmischung und der Technik des Divisionismus bzw. Pointillismus zu experimentieren, entwickelte aber einen individuellen Pinselduktus.

Er trug die reinen Farben in kurzen Strichen nebeneinander auf die Leinwand auf, damit sie sich erst im Auge des Betrachters vermischen. Segantini beschrieb seine revolutionäre Maltechnik wie folgt:

„Dazu benutze ich dünne, möglichst lange Pinsel, und ich beginne auf der Leinwand loszuarbeiten mit feinen dünnen und pastosen Pinselstrichen, indem ich stets zwischen jedem Pinselstrich einen Zwischenraum lasse, den ich mit den Komplementärfarben ausfülle, und zwar möglichst, wenn die Grundfarbe noch frisch ist, damit das Gemälde zerflossener wirkt. Das Mischen der Farben auf der Palette führt dem Dunklen entgegen; je reiner die Farben sind, umso besser führen wir unser Gemälde dem Licht, der Luft und der Wirklichkeit entgegen.“

Nach mehreren Ortswechseln in der Lombardei und der Geburt zweier Söhne kehrte die Familie für einige Zeit nach Mailand zurück, wo der dritte Sohn und eine Tochter zur Welt kamen.

Doch Segante zog es wieder hinaus in die Natur. Er war kein Ateliermaler, sondern bevorzugte es, seine Staffelei unter freiem Himmel aufzustellen. Dafür nahm er im Laufe seines Lebens immer größere Mühen auf sich, stieg immer weiter hinauf zum Licht.

„Er würde Bilder malen, wie andere sie nicht malen konnten. Er kannte keinen Maler, der auf die Berge gestiegen wäre, um dort zu malen. Die Bilder der anderen mochten hervorragend sein, ihm schmeckten sie nach Atelier.“

Sein – Die Hochphase des Schaffens

Der nächste Wohnort sollte das Dorf Savognin in Graubünden sein, wo ihn die Landschaft förmlich berauschte. Viele seiner großen Werke entstanden hier.

Das einheimische Mädchen Barbara Uffer, genannt Baba, trat als Kinder- und Hausmädchen in den Dienst der Familie. Sie wurde zu Segantinis bevorzugtem Modell und begleitete ihn fortan auf seine Malexkursionen in die Bergnatur.

Doch auch in Savognin war ihr Aufenthalt nicht von Dauer. Sobald Giovanni den Eindruck hatte, es seien alle Motive in der Umgebung gemalt, strebte er den nächsten Ortswechsel an. Maloja war die nächste und letzte Station in Segantinis viel zu kurzem Leben.

Als er 1894 Savognin verließ, um sich im Engadin niederzulassen, bezog seine Familie mit Baba das leerstehende Chalet Kuoni. Das urige Holzhaus ist heute noch im Familienbesitz und steht für eine Besichtigung nach Anmeldung offen.

Eine neue Schaffensphase brach an: Stand vormals noch der ländliche Mensch im Mittelpunkt der Gemälde, wurde in Maloja die Natur zum symbolistischen Hauptmotiv. Giovanni avancierte zum gefeierten Hochgebirgsmaler.

Endlich stellten sich auch finanzielle Erfolge ein. Die Presse berichtete über ihn, seine Bilder wurden in Einzelausstellungen gezeigt und erhielten hochdotierte Auszeichnungen. Ein Lichtblick für Bice, die oft nicht gewusst hatte, wovon sie den Lebensunterhalt bestreiten sollte.

Vergehen – Der viel zu frühe Tod

In den Bergen rund um Maloja entstand zwischen 1898 und 1899 Segantinis größtes Werk: das Alpentriptychon. Es sollte ein Panorama des Engadins für die Weltausstellung 1900 in Paris werden – und sein endgültiger Aufstieg in den Olymp der Kunst.

Der Künstler ließ für seine großformatigen Bildtafeln Gehäuse als Witterungsschutz zimmern, damit er an drei verschiedenen Orten unter freiem Himmel malen konnte.

Doch zuletzt kam alles anders. Bevor Segantini den dritten Teil „La morte“ vollenden konnte, starb er mit 41 Jahren unter dramatischen Umständen in der 2700 Meter hoch gelegenen Hütte am Schafberg, wo er am Mittelteil des Gemäldes gearbeitet hatte. Seine letzten Worte waren: „Ich will meine Berge sehen!“

Asta Scheibs sprachlich dichte Schilderung von Giovannis plötzlichem Tod lässt die Leserschaft ebenso fassungslos zurück wie Bice. Auch wenn ihre detaillierten Schilderungen des familiären Lebensalltags manchmal langatmig erscheinen – am Ende des Buches spürt man, wie sehr sie damit Verbundenheit erzeugt hat.

Die Romanfiguren sind einem ans Herz gewachsen und man leidet mit Bice, Baba und den Kindern, die ihren Lebensgefährten, Vater und väterlichen Freund viel zu früh verlieren. Auch bei der wiederholten Lektüre verliert der Roman nicht an Faszination, vor allem, wenn man die Schauplätze kennt.

Ich empfehle Ihnen wärmstens, die grandiosen Landschaften, die Segantini inspiriert haben, mit eigenen Augen zu sehen. Ebenso seine Bilder, die mittlerweile in den großen Kunsthäusern Europas hängen. Möchten Sie beides verbinden, besuchen Sie doch das Segantini Museum in St. Moritz, wo das Alpentriptychon ausgestellt ist. In Maloja lädt der Sentiero Segantini ein, auf den Spuren Segantes zu wandern.

Besonders berührend finde ich übrigens Asta Scheibs Darstellung der Liebesbeziehung zwischen Giovanni und Bice. Ohne die kunstverständige und treusorgende Frau an seiner Seite hätte sich die Entwicklung des Künstlers nicht in diesem Maße vollziehen können – und wäre vielleicht an seinen Kindheitstraumata gescheitert, die immer wieder unbewusst in seine Malerei einflossen.

„Ich weiß Bice, dass es Friedrich Nietzsche war, der das übers Engadin gesagt hat. »Das Schönste, was ich sah!« Für mich bist du das, Bice. […] Weder die Brianza, noch Savognin, noch Maloja – das ganze Engadin hätte mir nichts genützt ohne dich, Bicetta.“

Extratipp: Filmbiografie „Die Magie des Lichts“

2015 kam der Dokumentarfilm Giovanni Segantini – Magie des Lichts von Christian Labhart in die Kinos. Der Schweizer Regisseur lässt Bruno Ganz als Stimme aus dem Hintergrund aus den Aufzeichnungen des Malers vorlesen. Mona Petri trägt Passagen aus Asta Scheibs Roman vor. Die Erzählpausen sind mit ergreifender Kammermusik von Paul Giger unterlegt.

Der ruhige, fast meditative Film überblendet Impressionen einstiger Lebensorte mit historischen Fotografien und Nahaufnahmen von Segantinis Gemälden, die ihren Naturschauplätzen gegenübergestellt werden. Er liefert die Bilder, vor allem Fotos der Protagonisten, die den Romanausgaben bedauerlicherweise fehlen.

Auch wenn der Film Segantinis Leben chronologisch folgt, wirkt er auf mich im Vergleich zu Scheibs Roman seltsam fragmentarisch. Ich bin gespannt, wie es Ihnen ergeht. Hinterlassen Sie gerne einen Kommentar!

Hier finden Sie übrigens eine Diashow von Segantinis Gemälden.

Unser Medientipp Lombardei

Hier gibt’s das Buch:

Asta Scheib
Das Schönste, was ich sah

erschienen im dtv Verlag am 01.03.2011
416 Seiten, Broschur
ISBN: 978-3-423-21272-4

Hier beim Verlag bestellen.

Asta Scheib – Das Schönste, was ich sah


Mareike Dietrich

Textgestalterin – Autorin

Als Innenarchitektin und Texterin gestaltet Mareike Ideen, Räume und Sprache. Für Glücksmomente Charmingplaces berichtet sie über alles, was ihr am Herzen liegt und sie selbst glücklich macht.

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