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Illustration: Burak Eser
Große Ideen brauchen ihre Reifezeit, aber über viele Jahrzehnte an ihnen festzuhalten, erfordert viel Willensstärke und Glaube – besonders, wenn diese Idee dann nur für wenige Tage Realität wird. Die Idee zu den Floating Piers entstand über 60 Jahre vor ihrer Realisierung.
Sicher haben Sie schon mindestens ein Foto der spektakulären Kunstwerke von Jeanne-Claude und Christo gesehen. Der verhüllte Reichstag, der über fünf Meter hohe und fast 40 Kilometer lange Stoffzaun, der sich durch die kalifornische Landschaft zieht oder die mit pinken Kunststoffbahnen umgebenen Inseln vor Miami. Bilder, die einem auch ohne großes Kunstinteresse immer wieder begegnen. Erst relativ spät (2014) äußerte sich Christo zu diesen Arbeiten: „Es ist total irrational und sinnlos“. Demnach muss sich niemand mit ihm oder Jeanne-Claude, ihrem Gesamtwerk, ihren Absichten auseinandersetzen, um in ihrem Schaffen etwas Zugängliches zu finden.
Abgesehen davon, dass das Künstlerpaar für den Besuch ihrer Werke nie Eintritt wollte und ihre Arbeit aus dem Verkauf von Entwurfzeichnungen oder Fotos finanzierte, haben die Projekte jedes mal eine monumentale Aussagekraft. Vielleicht liegt es an der Größe der verhüllten Objekte oder der mit Stoffbahnen durchzogenen Landschaft, aber die Sprache der Kunstwerke spricht von etwas Gewaltigerem als individuellen Erfahrungen oder Eindrücken. In ihnen spiegelt sich die ganze Welt.
Es ist also kein Wunder, dass Besucher*innen der Projekte sagen, dass Fotos und Filmaufnahmen nicht wiedergeben können, was sie vor Ort empfunden haben. So auch auf den Floating Piers. Berichte erzählen von dem schaukelnden Gang über die insgesamt drei Kilometer über den Iseosee, die den Ort Sulzano, sowie die Inseln Monte Isola und Isola di San Paolo miteinander verbunden haben. Insgesamt 220.000 Kunststoffwürfel wurden zu 16 Meter breiten Stegen zusammengefügt, auf dem Grund mit ungefähr 220 tonnenschweren Gewichtsankern befestigt. Über die Piers spannte sich 75.000 m² orangefarbener Stoff, der je nach Tageszeit und Licht ein anderes Spektrum seiner Farbe wiedergab. Dazu das Wasser, das in jenem Sommer mit seinen grünen und blauen Schattierungen in Kontrast zu den leuchtenden Stegen trat. 15 Millionen US-Dollar hat das Projekt gekostet. Die geschätzte Besucher*innenzahl beläuft sich auf 1,3 Millionen. Summen, die den Floating Piers angemessen scheinen.
Während der 16 Tage, an denen die Stege existierten, bekam der Iseosee eine nie dagewesene Aufmerksamkeit auf der Weltbühne. Neben der großen Berichterstattung bevölkerten Menschen aus aller Welt die Piers, übervölkerten die Ortschaften und sorgten für Überforderung der Einheimischen. Auch davon erzählen die Berichte. Eigentlich war geplant, die Stege tags wie nachts frei zugänglich zu machen, doch wegen des Ansturms wurden sie zwischen Mitternacht und sechs Uhr am Morgen geschlossen. Auch wegen Reinigung und Reparaturen.
Was für ein enormer Kraftaufwand die Realisierung eines Projekts dieser Größenordnung ist, zeigt auch die 2016 parallel entstandene Dokumentation „Christo – Walking on Water“. Sie zeigt nicht nur die Arbeitsschritte, sondern porträtiert auch den Künstler, der irgendwo zwischen euphorischem Enthusiasmus und kompromissloser Wut sein Ziel verfolgte. Einblicke in ein Leben und einen Charakter, der den Wahnsinn erklärt, derartige Installationen auf die Beine zu stellen – nur um sie nach kurzer Zeit wieder verschwinden zu sehen.
Gut möglich, dass Christo schon immer so war. Möglich ist aber auch, dass die augenscheinliche Manie, mit der er dieses Projekt verfolgte, auch damit zu tun hat, dass seine Frau und künstlerische Partnerin Jeanne-Claude 2009 verstorben war. „Jeanne-Claude ist immer bei mir. Für mich ist sie nie gestorben. Sie war eine unglaublich intelligente und kritische Person. Sie fehlt mir immerzu“ sagte Christo in diesem Interview während der Realisierung der Floating Piers. In der Dokumentation hört man von Christo: „Sie [die Projekte] existieren nur, weil ich und Jeanne-Claude sie sehen und realisieren möchten“. Vielleicht sind die Floating Piers über diesen Zweck hinaus zu einem monumentalen Tribut an seine Lebensgefährtin geworden.
Auch sein eigener Tod am 31. Mai 2020 hat für Christo nicht das Ende seines künstlerischen Schaffens bedeutet. Vom 18. September bis 3. Oktober dieses Jahres soll der Arc de Triomphe in Paris verhüllt werden. Auch ein Projekt, das bereits sei den 1960ern in Planung war. Obwohl es vermutlich die letzte Gelegenheit ist, ein Projekt des Künstlerpaares live zu erleben, ist es, als würden sie die Vergänglichkeit von Jeanne-Claude und Christo selbst überleben und sie gleichzeitig betonen. Vielleicht konnten sie sich deshalb so lange Zeit lassen, weil Jeanne-Claude und Christo wussten, daß der Zauber der Vergänglichkeit sie überdauert.
„Die Zeit entdecken, heißt die Vergänglichkeit empfinden.“
–Eugène Ionesco
Floating Piers zum kaufen
Bei der Galerie Hunold können Sie Kunstdrucke von Fotos der Floating Piers kaufen.
Bei TASCHEN gibt es auch einige Prints zu kaufen. Ebenso Bücher über Christo. Der Bildband über die Floating Piers schafft schöne Einblicke in das Projekt.
Medientipp: Floating Piers zum anschauen
Die im Text genannte Filmdokumentation „Christo – Walking on Water“ können Sie auch online für kleines Geld anschauen.
Lea Biermann
Redaktion
Seit vielen Jahren schreibt Lea für Redaktionen & Unternehmen.
Bei Glücksmomente Charmingplaces erzählt Lea am liebsten über Menschen und ihre Leidenschaft, sowie Bücher oder Filme, die direkt ins Herz gehen.
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