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Header-Foto: © Rigolo Tanztheater
Das neue Rigolo-Werk „Ithir“ – irisch für Erde – wurde Mitte September in der Lokremise Wil erfolgreich uraufgeführt. Eine thematisch passende Kunstausstellung, das „Tonerde-Festival“, umrahmt die 13 Vorstellungen am ersten Spielort.
Das Rigolo Tanztheater hat sich dafür mit mehr als einem Dutzend Kunstschaffender zusammengetan, deren Arbeiten vor der Aufführung zu besichtigen sind. Gezeigt werden Lehmskulpturen, Keramik, Bilder, Fotografien und Videoinstallationen. An den Wochenenden werden zudem Workshops angeboten, in denen die Besucher das erdige Material selbst erkunden können.
Wie schon bei früheren Produktionen hat die Künstlerfamilie rund um ihr Stück einen eigenen Kosmos erschaffen – eine ganzheitliche Inszenierung, die mit allen Sinnen erlebbar ist. Von der Möblierung bis zum Menü: Alles ist liebevoll ausgedacht und aufeinander abgestimmt.
Als Startort für die sechsmonatige Tournee durch den Osten der Schweiz ist die Lokremise gut gewählt. Das historische Industriedenkmal bietet viel Raum für das „lebendige Experiment“, als welches sich Rigolo selbst bezeichnet.
In der aktuellen Produktion wird mit Lehm in allen Konsistenzen experimentiert, von flüssig bis steinhart. „Ithir“ ist bereits das zweite Stück aus der Feder von Marula Eugster, der jüngsten Tochter des Gründerpaars Mädir Eugster und Lena Roth.
Im Jahr 2020 hat sie gemeinsam mit ihrer Schwester, der Eventmanagerin Nuria Astorga Eugster, die Leitung der Rigolo Swiss Nouveau Cirque Company übernommen.
Geglückter Generationenwechsel im Rigolo Tanztheater
Marula, die ihre Tanzausbildung in Rorschach, Zürich und New York absolviert hat, erhielt 2014 die führende Rolle in der Rigolo-Produktion „Wings“. Im Schlussakt zeigt sie ihre Neuinterpretation der weltberühmten Sanddornbalance ihres Vaters.
Im Jahr 2020 entwickelte sie daraus ihr erstes eigenes Bühnenstück für Rigolo: „Sospiri“, der Seufzer. Ein Stück, in dem drei Frauen nach ihrer Bestimmung im Leben suchen. Marula hat sie ganz unverkennbar gefunden. Nach hunderten Kilogramm Sand wie in „Sospiri“ bringt sie in „Ithir“ nun Lehm auf die Bühne.
Lehm habe sie schon lange fasziniert, berichtet uns Marula im Interview. Überhaupt finde sie häufig Inspiration in der Natur und im Umgang mit natürlichen Materialien.
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt: Die Naturverbundenheit der Toggenburger Familie – die einst Straßen-, Freiluft- und Höhlentheater inszenierte, lange Zeit in ihrem aus Weidenzweigen konstruierten Theaterzelt auftrat und dabei in mongolischen Jurten lebte – zieht sich wie ein roter Faden durch vier Jahrzehnte Rigolo.
Verbundenheit zu schaffen, scheint eine Gabe unserer charismatischen Interviewpartner zu sein. Marula und ihr Vater sind nahbar, herzlich, natürlich. Kein Wunder, dass ihnen ihr Stammpublikum über Jahre hinweg treu bleibt. Eine Dame am Nachbartisch wendet sich an Mädir und schwärmt begeistert von der Aufführung „Geister der Erde“ in der Salpeterhöhle vor fast dreißig Jahren.
Wir genießen die familiäre Atmosphäre und lassen uns Anekdoten aus einer höchst unkonventionellen Familiengeschichte erzählen.
Feuer, Wasser, Erde, Luft
Seit sie 1993 in der Salpeterhöhle heraufbeschworen wurden, tauchen die vier Elemente der Naturphilosophie auch in den folgenden Produktionen immer wieder auf.
Ob in „Feuerfisch“, „Tausendwasser“ oder in der weltberühmten „Sanddorn“-Performance – die künstlerisch-spirituelle Auseinandersetzung mit dem Urgrund des Lebens, mit der Natur und ihren Rhythmen zeichnet das Gesamtwerk von Rigolo aus. Spektakulär und tiefsinnig zugleich sind die Bilder, die das Künstlerpaar erschafft; stets Ausdruck ihrer persönlichen Sinnsuche.
Lena habe die Ideen für die poetischen Stücke eingebracht, verrät uns Mädir, er sei hauptsächlich für die Umsetzung zuständig gewesen. In den über 30 Produktionen, die seit 1978 entstanden sind, ist er abwechselnd als Darsteller, Regisseur oder Bühnenbildner, Erfinder von Requisiten und Gestalter von Kunstobjekten tätig.
Vor allem seine abendfüllende Soloperformance „Balance“, die 2001 erstaufgeführt wurde, offenbart Mädirs Doppelbegabung als darstellender und bildender Künstler. Virtuos kreiert er raumgreifende kinetische Objekte auf der Bühne, verbindet Tanz mit Installations- und Performancekunst.
Auch im aktuellen Stück „Ithir“ ist Mädir als Bühnenbildner und Requisiteur involviert; außerdem unterstützt er seine Töchter als Co-Regisseur.
Die Zusammenarbeit innerhalb der Familie verlaufe harmonisch, lässt Marula wissen – auch deshalb, weil die Aufgaben klar verteilt seien. Ihre Eltern und ihre älteren Schwestern seien stets Vorbilder für sie gewesen. Gemeinsam könne man auf einen reichen Erfahrungsschatz zugreifen.
Der ewige Kreislauf des Seins
„Ithir“ erzählt von den Rhythmen und Zyklen der Natur; erinnert an eine höhere Weisheit und ein tiefes inneres Wissen, das in unserer technisierten und rationalisierten Welt zunehmend verloren geht.
Gleich zu Beginn ein ausdrucksstarkes Bild, das man als Kontrapunkt zum linearen Fortschrittsdenken interpretieren könnte. Auf dem schwarzen Bühnenhintergrund entsteht ein Kreis, mit bröckeligem Lehm gemalt, durch langsame Rotationen von Marula Eugsters rechtem Arm. Sie steht seitlich zur Leinwand, schaut gar nicht hin. Der Kreis entspringt ihrem Körper, ihrem Körpergefühl – und wird makellos rund.
Ästhetischer Minimalismus und kreative Verspieltheit wechseln sich ab in den folgenden Szenen des Stücks.
Dies gilt auch für die musikalische Komposition, die von Alexandre Dai Castaing und Christian Kleiner geschaffen wurde. Letzterer steht als Kontrabassist live auf der Bühne. Im Rhythmus der archaischen Klänge finden die beiden Darstellerinnen immer wieder zu eindrucksvollen Tanzfiguren zusammen, die den Zuschauern das fragile Gleichgewicht der Naturkreisläufe vor Augen führen.
Und wenn sich Anna Zurkirchen und Marula Eugster gegenseitig in der Schwebe halten, wird deutlich, dass es einer gemeinsamen Anstrengung bedarf, um die natürliche Balance zu wahren.
Trotz des ernsten Themas und der nachdenklich machenden Aussagen von „Ithir“, einem universellen Wesen, welches möglicherweise unsere wahre Natur unter den Schichten der Zivilisation verkörpert, fehlt es der Inszenierung nicht an humorvoller Leichtigkeit.
Löst das Balz- und Kampfverhalten der mit abstrakten Tierkopfmasken ausgestatteten Tänzerinnen noch schwankende Gefühle aus, bringt der beschwingte Stepptanz der lebensgroßen Stabpuppe „Ithir“ das Publikum einstimmig zum Lachen.
„Ithir“ ist während der gesamten Aufführung präsent – mal still beobachtend, mal moderierend, mal im Zentrum des Geschehens. Die Puppe besteht, wie sollte es auch anders sein, größtenteils aus Lehm.
Ein synästhetisches Bühnenerlebnis
Die haptische Materialität des vielfältig und ideenreich eingesetzten Lehms strahlt bis in den Zuschauerraum aus. Als sich die Protagonistinnen aus weichem Ton Lehmgesichter formen und eine Maskenpantomime vollführen, habe ich den Eindruck, als könne ich die feuchte Schwere des Materials mit den Augen fühlen.
Später, als zwei getrocknete Lehmscheiben zerbrechen und auf dem Bühnenboden in noch kleinere Scherben zerspringen, ist die Härte des Augenblicks fast körperlich spürbar.
„Ithir“ ist ein nahezu synästhetisches Bühnenerlebnis, das berührt und zu Herzen geht. Ein äußerst gelungenes Zusammenspiel von Tanz, Theater, Artistik, Musik und bildender Kunst.
Wann es Sie auch immer in die Schweiz führt – nutzen Sie die Gelegenheit, eine Rigolo Tanztheater-Produktion zu besuchen! Die aktuellen Spieldaten finden Sie auf der Website des Tanztheaters.
Mareike Dietrich
Textgestalterin – Autorin
Als Innenarchitektin und Texterin gestaltet Mareike Ideen, Räume und Sprache. Für Glücksmomente Charmingplaces berichtet sie über alles, was ihr am Herzen liegt und sie selbst glücklich macht.
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